Der menschliche Makel
»Lesen ist der Schlüssel zu allem, und darum muss man was tun, aber es macht mich fertig. Im zweiten Jahr ist es angeblich schon besser, und im dritten ist es noch besser. Und das ist jetzt mein viertes Jahr.« »Und es ist nicht besser?«, fragte er. »Es ist schwer. Es ist so schwer. Und mit jedem Jahr wird es schwerer. Aber wenn Einzelunterricht nicht hilft, was soll man dann machen?« Tja, was er mit dem Mädchen machte, das nicht lesen konnte: Er machte es zu seiner Geliebten. Farley hatte es zu seinem Sandsack gemacht. Der Kubaner hatte es zu seiner Hure gemacht, zu einer seiner Huren - das jedenfalls glaubte Coleman meistens. Und für wie lange? War es das, woran Faunia dachte, bevor sie wieder zur North Hall ging, um die Korridore fertig zu putzen? Dachte sie daran, wie lange das alles so weitergegangen war? Die Mutter, der Stiefvater, die Flucht vor dem Stiefvater, die Orte im Süden, die Orte im Norden, die Männer, die Prügel, die Jobs, die Heirat, die Farm, die Herde, der Konkurs, die Kinder, die beiden toten Kinder. Kein Wunder, dass ihr eine halbe Stunde in der Sonne und eine mit den Jungs geteilte Pizza wie das Paradies erscheint.
»Das ist mein Freund Coleman, Faunia. Er will bloß ein bisschen zusehen.«
»Okay«, sagt Faunia. Sie trägt einen Trägerrock aus grünem Cord, saubere weiße Strümpfe und glänzende schwarze Schuhe und ist nicht annähernd so unbekümmert wie Carmen, sondern ruhig, wohlerzogen und stets ein wenig niedergedrückt - ein hübsches weißes Mädchen aus dem Mittelstand mit langen, blonden, zu beiden Seiten des Kopfes von Schmetterlingsspangen gehaltenen Haaren, ein Mädchen, das, nachdem er vorgestellt worden ist, im Gegensatz zu Carmen keinerlei Neugier, keinerlei Interesse für ihn zeigt. »Hallo«, murmelt Faunia artig und macht sich gehorsam daran, die magnetischen Buchstaben zu ordnen. Sie schiebt die W, die T, die N, die S zusammen und gruppiert die Vokale in einer anderen Ecke der Tafel.
»Benutz beide Hände«, sagt Lisa, und Faunia tut, was man ihr sagt.
»Wie heißen die hier?«, fragt Lisa.
Faunia liest sie. Sie liest alle Buchstaben richtig.
»Jetzt mal ein Wort, das sie kennt«, sagt Lisa zu ihrem Vater. »Leg mal KOPF, Faunia.«
Faunia tut es. Faunia legt KOPF.
»Gut gemacht. Jetzt ein Wort, das sie noch nicht kennt. Leg TOPF.«
Sie sieht die Buchstaben lange und angestrengt an, aber nichts passiert. Faunia legt nichts. Tut nichts. Wartet. Wartet darauf, dass etwas passiert. Hat ihr Leben lang darauf gewartet, dass etwas passiert. Es passiert immer etwas.
»Ich will, dass du den ersten Buchstaben veränderst, Faunia. Nun komm schon - das kannst du. Wie heißt der erste Buchstabe von KOPF?«
»K.« Sie entfernt das K und ersetzt es durch ein T.
»Gut gemacht. Und jetzt mach daraus ZOPF.«
Sie tut es. Zopf.
»Gut. Jetzt lies das Wort mit den Fingern.«
Faunia fährt mit dem Finger unter den Buchstaben entlang und spricht jeden einzelnen deutlich aus: »T! O! P! F!«
»Sie ist schnell«, sagt Coleman.
»Ja, aber das soll auch schnell gehen.«
In den anderen Ecken des großen Raums sind drei andere Kinder mit drei anderen Förderlehrerinnen, und so hört Coleman ringsum helle Kinderstimmen laut lesen und sich, ganz unabhängig vom Inhalt, nach demselben kindlichen Muster heben und senken. Er hört auch, was die anderen Lehrerinnen sagen. »Das kennst du - A wie ›Apfel‹ - A - A«, und: »Das kennst du - GEN, du kennst GEN«, und: »Du kennst ICH - sehr gut, gut gemacht«, und als er sich umsieht, bemerkt er, dass alle anderen Kinder ebenfalls Faunia sind. Überall sind Alphabettafeln aufgehängt, mit Bildern, die jeden Buchstaben illustrieren, und überall sind Plastikbuchstaben, die man in die Hand nehmen kann und die verschiedene Farben haben, damit es leichter ist, die Wörter Buchstaben für Buchstaben auszusprechen, und überall liegen einfache Bücher, in denen die allereinfachsten Geschichten erzählt werden: »... am Freitag fahren wir an den Strand. Am Samstag fahren wir zum Zoo.« ›»Vater Bär, ist Kleiner Bär bei dir?‹ ›Nein‹, sagte Vater Bär.« »Am Morgen bellte ein Hund Sara an. Sie hatte Angst. Mama sagte: ›Hab keine Angst, Sara.‹« Und zusätzlich zu diesen Büchern und Geschichten und Saras und Hunden und Bären und Stranden gibt es vier Lehrerinnen, vier Lehrerinnen nur für Faunia, und trotzdem schaffen sie es nicht, ihr lesen beizubringen, wie es ihrem Alter entspräche.
»Sie ist in der ersten Klasse«,
Weitere Kostenlose Bücher