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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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»Na ja, jeden Tag eine halbe Stunde, das ist eine Menge Förderunterricht. Sie soll zu Hause täglich eine halbe Stunde lesen, aber zu Hause ist eine sechzehnjährige Schwester, die gerade ein Kind gekriegt hat, und die Eltern vergessen, mit ihr zu üben, oder es ist ihnen egal. Sie sind Einwanderer, und Englisch ist ihre zweite Sprache. Sie tun sich schwer, ihren Kindern englische Bücher vorzulesen, aber spanische Bücher hat Carmen ebenfalls nie vorgelesen bekommen. Und mit solchen Kindern habe ich es tagein, tagaus zu tun. Als erstes probiere ich immer aus, ob ein Kind weiß, wie man mit einem Buch umgeht. Ich gebe ihm ein Buch wie dieses hier, mit einer großen Illustration unter dem Titel, und sage: ›Zeig mir mal die Vorderseite des Buches. ‹ Manche Kinder können das, die meisten allerdings nicht. Buchstaben haben für sie keinerlei Bedeutung. »Und«, fuhr sie mit einem erschöpften Lächeln fort, das nicht annähernd so bezaubernd wie das Carmens war, »meine Kinder sind angeblich nicht lerngestört. Carmen sieht sich die Wörter, die ich ihr vorlese, gar nicht an. Sie sind ihr egal. Und deswegen ist man am Ende des Tages fix und fertig.
    Ich weiß, andere Lehrer haben es auch schwer, aber wenn man den ganzen Tag eine Carmen nach der anderen gehabt hat, ist man abends emotional völlig am Ende. Dann kann sogar ich nicht mehr lesen. Ich kann nicht mal mehr telefonieren. Ich esse etwas und gehe ins Bett. Ich mag diese Kinder. Ich liebe sie. Aber dieser Unterricht ist mehr als anstrengend - er bringt einen um.«
    Faunia setzte sich jetzt auf und trank den letzten Schluck aus der Dose, während einer der Jungs - der jüngste, dünnste und jungenhafteste von ihnen, der zu seiner braunen Uniform ein rotkariertes Halstuch und anscheinend hochhackige Cowboystiefel trug und, obgleich das gar nicht zu ihm passte, ein Kinnbärtchen hatte - den Abfall des Mittagessens einsammelte und in einen Müllbeutel steckte und die anderen drei etwas abseits in der Sonne standen und eine letzte Zigarette rauchten, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten.
    Faunia war allein. Und sie schwieg jetzt. Sie saß, die leere Dose in der Hand, ernst da und dachte an ... an was dachte sie? An die zwei Jahre als Kellnerin in Florida, als sie sechzehn und siebzehn gewesen war, an die pensionierten Geschäftsmänner, die immer zur Mittagszeit erschienen, ohne ihre Frauen, und sie fragten, ob sie nicht gern in einer hübschen Wohnung wohnen und hübsche Kleider und einen hübschen neuen Pinto und ein Kundenkonto bei allen Boutiquen von Bai Harbour und beim Juwelier und beim Schönheitssalon haben würde, ohne dafür mehr zu tun, als an ein paar Abenden pro Woche und hin und wieder auch am Wochenende ihre Freundin zu sein? Im ersten Jahr hatte sie dieses Angebot nicht einmal, zweimal oder dreimal, sondern viermal gehört. Und dann der Vorschlag des Kubaners: hundert Dollar pro Freier für sie, steuerfrei. Eine schlanke Blondine mit großen Titten, ein gut aussehendes Mädchen wie sie, mit ihrer Energie, ihrem Ehrgeiz, ihrem Mumm - wenn sie sich einen Minirock, Strumpfhalter und Stiefel anzieht, sind pro Nacht tausend Dollar drin. Ein, zwei Jahre, und sie kann sich, wenn sie will, zur Ruhe setzen - das kann sie sich dann leisten. »Und du hast es nicht getan?«, fragte Coleman. »Nein. Mh-mh. Und glaub bloß nicht, dass ich nicht drüber nachgedacht hab«, sagte sie. »Diese Restaurantscheiße, diese ekelhaften Leute, die durchgeknallten Köche, eine Speisekarte, die ich nicht lesen konnte, Bestellungen, die ich nicht aufschreiben konnte und die ich im Kopf behalten musste - das war kein Zuckerlecken. Aber wenn ich auch nicht lesen kann - rechnen kann ich. Ich kann zusammenzählen. Ich kann abziehen. Ich kann keine Wörter lesen, aber ich weiß, wer Shakespeare ist. Ich weiß, wer Einstein ist. Ich weiß, wer den Bürgerkrieg gewonnen hat. Ich bin nicht blöd. Ich bin nur eine Analphabetin. Das ist ein kleiner Unterschied, aber es ist ein Unterschied. Zahlen sind was anderes. Mit Zahlen kenne ich mich aus, das kann ich dir sagen. Glaub nicht, dass ich gedacht habe, das wäre eine schlechte Idee.« Doch das brauchte sie Coleman nicht zu sagen. Er dachte nicht nur, dass sie es mit Siebzehn für eine gute Idee gehalten hatte, auf den Strich zu gehen, sondern auch, dass es eine Idee gewesen war, mit der sie nicht bloß gespielt hatte.
    »Was macht man mit einem Mädchen, das nicht lesen kann?«, hatte Lisa ihn in ihrer Verzweiflung gefragt.

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