Der menschliche Makel
sagt Lisa zu ihrem Vater. »Wir hoffen, dass sie, wenn wir vier jeden Tag von früh bis spät mit ihr arbeiten, den Rückstand gegen Ende des Jahres aufgeholt haben wird. Aber es ist schwer, sie zu motivieren, sodass sie aus eigenem Antrieb etwas tut.«
»Ein hübsches kleines Mädchen«, sagt Coleman.
»Ja? Findest du sie hübsch? Gefällt dir dieser Typ? Ist das dein Typ, Dad, dieser hübsche Typ, der nur langsam lesen lernt, mit dem langen, blonden Haar und dem gebrochenen Willen und den Schmetterlingsspangen?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Das brauchst du auch nicht. Ich hab dich beobachtet«, und sie weist auf die vier Faunias, die still vor den Tafeln sitzen und aus den bunten Buchstaben die Wörter KOPF, TOPF und ZOPF legen. »Als sie das erste Mal mit den Händen das Wort ZOPF gelegt hat, konntest du deine Augen gar nicht von ihr abwenden. Tja, wenn dich das anmacht, hättest du sie mal im September sehen sollen. Im September hat sie ihren Vornamen und ihren Nachnamen falsch buchstabiert. Sie kam frisch von der Vorschule, und das einzige Wort auf der Liste, das sie erkannt hat, war ›nicht‹. Sie wusste nicht, dass Buchstaben eine Nachricht enthalten. Sie wusste nicht, dass die linke Seite vor der rechten Seite kommt. Sie kannte Schneewittchen und die sieben Zwerge nicht. ›Kennst du Schneewittchen und die sieben Zwerge , Faunia?‹ ›Nein.‹ Das bedeutet, dass ihre Kindergarten- und Vorschulzeit nicht sehr gut war - denn so was lernen sie dort: Märchen und Kinderlieder. Heute kennt sie immerhin Rotkäppchen und der Wolf , aber damals? Nie gehört. Ach, wenn du Faunia damals gesehen hättest, frisch gescheitert aus dem Kindergarten - ich garantiere dir, Dad, du wärst hingerissen gewesen.«
Was macht man mit einem Mädchen, das nicht lesen kann? Mit dem Mädchen, das irgendeinem Mann in seinem Pick-up in ihrer Einfahrt einen bläst, während oben, in der winzigen Wohnung über einer Garage, ihre Kinder schlafen, wie sie glaubt, und die kerosinbetriebene Heizsonne eingeschaltet ist - zwei unbeaufsichtigte Kinder, eine offene Flamme und dieser Typ in seinem Wagen. Mit dem Mädchen, das mit Vierzehn abgehauen und sein ganzes Leben lang auf der Flucht vor seinem unerklärlichen Leben ist. Mit dem Mädchen, das einen durchgeknallten Vietnamveteranen, der ihr an die Gurgel geht, wenn sie sich nur im Schlaf umdreht, heiratet, weil er eine Stütze und ein Beschützer sein wird. Mit dem Mädchen, das falsch ist, dem Mädchen, das lügt und sich versteckt, dem Mädchen, das nicht lesen kann, das doch lesen kann, das vorgibt , nicht lesen zu können, das diesen behindernden Makel bereitwillig auf sich nimmt, damit es sich um so besser als Angehörige einer Untergruppe ausgeben kann, der es nicht angehört und nicht angehören müsste, von der er aber, wie es aus völlig falschen Gründen will, glauben soll, dass es ihr angehört. Von der es selbst glauben soll, dass es ihr angehört. Mit dem Mädchen, dessen Leben mit Sieben eine Halluzination, mit Vierzehn eine Katastrophe und fortan ein Desaster war, dessen Berufung es ist, weder eine Kellnerin noch eine Hure oder Farmerin oder Putzfrau, sondern für immer die Stieftochter eines Lüstlings und die schutzlose Tochter einer Frau, die nur mit sich selbst beschäftigt ist, zu sein, dem Mädchen, das jedem misstraut, das in jedem einen Betrüger sieht und doch gegen nichts gefeit ist, dessen Fähigkeit, unerschrocken weiterzumachen, enorm ist und das im Leben dennoch so gut wie gar nicht vorangekommen ist, mit dem Mädchen, dem alles Widerwärtige, das einem passieren kann, passiert ist, dessen Glück keinerlei Anstalten macht, sich zu wenden, und das ihn dennoch begeistert und erregt wie keine andere Frau seit Steena, das nicht der abstoßendste, sondern - moralisch betrachtet - der am wenigsten abstoßende Mensch ist, den er kennt, der einzige Mensch, zu dem er sich hingezogen fühlt, weil er, Coleman, so lange in die entgegengesetzte Richtung gegangen ist und dabei so viel verpasst hat und weil ihn das unterschwellige Gefühl moralischer Lauterkeit, das ihn zuvor auf Kurs gehalten hat, jetzt gerade vorantreibt, was macht man mit der ungleichen Vertrauten, mit der ihn geistig ebenso viel verbindet wie körperlich, die alles andere als ein Spielzeug ist, auf das er sich zweimal pro Woche wirft, um die animalische Seite seines Wesens zu kräftigen, und die ihm mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt eine Waffengefährtin ist.
Was macht man also mit
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