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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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gewesen wäre, sondern auch auf sympathische Weise zum Ausdruck gebracht hätte, welche Freude es bereiten kann, an einem schönen Sommertag sein Mittagessen unter freiem Himmel einzunehmen, während sie nun mit nichts anderem als Bedeutung beladen war. Weder Nelson Primus noch seine geliebte Lisa oder die kryptische Anprangerung in Delphine Roux' anonymem Brief hatten ihn von irgendetwas überzeugt, doch diese alltägliche Szene auf dem Rasen hinter der North Hall führte ihm schließlich die bisher verborgene Seite seiner Schande vor Augen.
    Lisa. Lisa und ihre Kinder. Die kleine Carmen. Das schoss ihm durch den Kopf, der Gedanke an die kleine Carmen - sechs Jahre alt aber laut Lisa wie ein viel kleineres Kind. »Sie ist süß«, sagte Lisa, »aber eigentlich wie ein Kleinkind.« Und tatsächlich war sie hinreißend, als er sie zum ersten Mal sah: sehr blasse braune Haut, pechschwarzes, zu zwei steifen Zöpfen geflochtenes Haar, Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte, Augen, die von innen leuchteten wie bläulich glühende Kohlen, der lebendige, geschmeidige Körper eines Kindes, adrett gekleidet in Miniaturjeans und Turnschuhe, bunte Söckchen und ein weißes T-Shirt, so schmal wie ein Pfeifenreiniger - ein munteres kleines Mädchen, dessen Aufmerksamkeit anscheinend allem und besonders ihm galt. »Das ist mein Freund Coleman«, sagte Lisa, als Carmen hereingeschlendert kam, auf dem kleinen, gewaschenen, morgendlich frischen Gesicht ein leicht amüsiertes, eingebildetes, aufgesetztes Lächeln. »Hallo, Carmen«, sagte Coleman. »Er will bloß mal sehen, was wir so machen«, erklärte Lisa. »Okay«, sagte Carmen freundlich, doch sie musterte ihn ebenso sorgfältig wie er sie und schien dabei gar nicht aufzuhören zu lächeln. »Wir machen einfach, was wir immer machen«, sagte Lisa. »Okay«, antwortete Carmen, probierte aber jetzt an ihm eine ernsthaftere Version ihres Lächelns aus. Und als sie sich den magnetischen Plastikbuchstaben auf der niedrigen kleinen Tafel zuwandte und Lisa sie bat, sie so anzuordnen, dass sie die Wörter WILD, WILL, WENN und WIND bildeten - »Ich sage dir doch immer«, sagte Lisa gerade, »dass du dir die Anfangsbuchstaben gut ansehen musst. Lies die Anfangsbuchstaben. Lies sie mit den Fingern« -, drehte Carmen immer wieder den Kopf und dann den ganzen Körper, um Coleman anzusehen und die Verbindung zu ihm nicht zu verlieren. »Alles ist eine Ablenkung«, sagte Lisa leise zu ihrem Vater. »Na komm schon, Carmen. Komm, Schätzchen. Er ist unsichtbar.« »Was?« »Unsichtbar«, wiederholte Lisa. »Du kannst ihn nicht sehen.« Carmen lachte. »Ich kann ihn aber sehen.« »Komm jetzt. Sieh mich an. Die Anfangsbuchstaben. Genau. Gut gemacht. Aber du musst auch den Rest des Wortes lesen, nicht? Erst den Anfangsbuchstaben und dann den Rest des Wortes. Gut - WILD. Und wie heißt das hier? Du kennst es. Du kennst dieses Wort. ›WENN.‹ Sehr gut.« An dem Tag, als Coleman bei dem Förderunterricht zusah, war Carmen schon seit fünfundzwanzig Wochen dabei und hatte zwar Fortschritte gemacht, aber nicht sonderlich große. Er erinnerte sich, wie sie in dem Bilderbuch, aus dem sie vorlesen sollte, mit dem Wort DEIN gekämpft hatte: Sie hatte sich die Augen gerieben, das T-Shirt gepackt und zerknautscht, ihre Beine um die Querstrebe ihres Kinderstuhls geschlungen, den kleinen Hintern langsam, aber sicher von der Sitzfläche geschoben - und war immer noch außerstande gewesen, das Wort DEIN zu erkennen oder auszusprechen. »Wir haben jetzt März, Dad. Fünfundzwanzig Wochen. Sie dürfte mit DEIN keine Schwierigkeiten mehr haben. Sie dürfte HAUS nicht mit MAUS verwechseln, aber im Augenblick wäre ich schon froh, wenn sie DEIN lesen könnte. Eigentlich hätte sie nur zwanzig Wochen im Förderprogramm bleiben sollen. Sie war in der Vorschule - da hätte sie ein paar grundlegende Wörter lernen sollen. Aber als ich ihr im September - da kam sie gerade in die erste Klasse - eine Liste von Wörtern gezeigt habe, sagte sie: ›Was ist das?‹ Sie wusste nicht mal, was Wörter eigentlich sind. Und die Buchstaben: Sie kannte kein H, sie kannte kein J, sie hat U und C verwechselt. Man kann das verstehen, weil diese Buchstaben ähnlich aussehen, aber jetzt, fünfundzwanzig Wochen später, hat sie dieses Problem im Grunde immer noch. M und W I und L. G und D. Das macht ihr immer noch Schwierigkeiten. Alles macht ihr Schwierigkeiten.« »Du bist ziemlich niedergeschlagen, was Carmen betrifft«, sagte er.

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