Der menschliche Makel
Jeff - meine Affäre mit dieser Frau ist vorbei.«
»Tatsächlich? Wieso?«
Er denkt: Weil es für sie keine Hoffnung gibt. Weil Männer sie grün und blau geprügelt haben. Weil ihre Kinder bei einem Brand umgekommen sind. Weil sie eine Putzfrau ist. Weil sie keine Schulbildung hat und nicht lesen kann. Weil sie mit Vierzehn weggelaufen und seitdem auf der Flucht ist. Weil sie mich nicht mal fragt: »Was machst du eigentlich mit mir?« Weil sie weiß, was alle mit ihr machen. Weil sie alles kennt und es keine Hoffnung gibt.
Aber zu seinem Sohn sagt er nur: »Weil ich meine Kinder nicht verlieren will.«
Mit einem ganz leisen Lachen sagte Jeff: »Das kannst du gar nicht, und wenn du dich auf den Kopf stellst. Mich könntest du jedenfalls nicht verlieren. Und Mike oder Lisa ebenfalls nicht, glaube ich. Mit Markie ist es was anderes. Markie sehnt sich nach etwas, was keiner von uns ihm geben kann. Nicht nur du - keiner von uns. Markie ist ein wirklich trauriger Fall. Aber dass wir dich verloren haben? Dass wir dich verloren haben, seit Mutter gestorben ist und du dich vom College zurückgezogen hast? Das war etwas, mit dem wir leben mussten, Dad. Keiner wusste, was man dagegen tun konnte. Seit du den Krieg gegen das College begonnen hast, war es nicht leicht, zu dir durchzudringen.«
»Das ist mir klar«, sagte Coleman. »Das verstehe ich.« Doch das Gespräch dauerte erst zwei Minuten und war für ihn bereits unerträglich. Dass sein vernünftiger, supertüchtiger, unbeschwerter ältester Sohn, das gelassenste seiner Kinder, so entspannt über das Familienproblem sprach, und zwar mit dem Vater, der das Problem war , erschien ihm ebenso schwer zu ertragen wie die Gespräche mit seinem irrationalen jüngsten Sohn, der über seinen Vater in blinde Wut geriet und durchdrehte. Wie übermäßig er ihre Sympathie in Anspruch genommen hatte - die Sympathie seiner eigenen Kinder! »Ich verstehe«, sagte Coleman noch einmal, und dass er verstand, machte alles nur noch schlimmer.
»Ich hoffe, ihr ist nichts allzu Schlimmes passiert«, sagte Jeff.
»Ihr? Nein. Ich bin bloß zu dem Schluss gekommen, dass es reicht.« Er hatte Angst, mehr zu sagen, denn er fürchtete, er könnte etwas ganz anderes sagen.
»Das ist gut!«, sagte Jeff. »Ich bin sehr erleichtert. Dass es keine Nachwirkungen gegeben hat - so klingt es jedenfalls. Das ist sehr gut.«
Nachwirkungen?
»Ich verstehe nicht«, sagte Coleman. »Wieso Nachwirkungen?«
»Dann bist du also frei und unbelastet? Dann bist du wieder du selbst? Du klingst so wie seit Jahren nicht. Dass du angerufen hast - das ist alles, was zählt. Ich habe gewartet und gehofft, und jetzt hast du angerufen. Mehr gibt es nicht zu sagen. Du bist wieder da. Das war es, worüber wir uns Sorgen gemacht haben.«
»Ich bin verwirrt, Jeff. Klär mich auf. Ich weiß nicht, wovon wir hier sprechen. Was für Nachwirkungen?«
Jeff hielt inne, bevor er sprach, und als er sprach, tat er es zögernd. »Nachwirkungen der Abtreibung. Des Selbstmordversuchs.«
»Faunia?«
»Ja.«
»Hatte eine Abtreibung? Hat versucht, sich das Leben zu nehmen? Wann?«
»Dad, jeder in Athena hat es gewusst. So haben wir davon erfahren.«
»Jeder? Wer ist jeder?«
»Hör zu, Dad, wenn es keine Nachwirkungen -«
»Es ist nie passiert, Junge, darum gibt es auch keine ›Nachwirkungen‹. Es ist nie passiert . Es gab keine Abtreibung, es gab keinen Selbstmordversuch - jedenfalls nicht dass ich wüsste. Und nicht dass sie wüsste. Aber wer ist jeder ? Verdammt, wenn du so eine Geschichte hörst, so eine idiotische Geschichte, warum greifst du dann nicht zum Hörer, warum kommst du dann nicht zu mir?«
»Weil es nicht meine Aufgabe ist, zu dir zu kommen. Ich komme nicht zu einem Mann deines Alters -«
»Nein, das tust du nicht. Stattdessen glaubst du, was man dir über einen Mann meines Alters erzählt, ganz gleich, wie lächerlich, wie bösartig und absurd es ist.«
»Wenn ich einen Fehler gemacht habe, dann tut es mir wirklich leid. Du hast recht. Natürlich hast du recht. Aber es war für uns alle eine schwere Zeit. Mit dir zu sprechen war nicht besonders -«
»Wer hat es dir erzählt?«
»Lisa. Lisa hat es zuerst erfahren.«
»Und von wem hat Lisa es gehört?«
»Von verschiedenen Leuten. Von Freundinnen.«
»Ich will Namen. Ich will wissen, wer ›jeder‹ ist. Welche Freundinnen.«
»Alte Freundinnen. Aus Athena.«
»Ihre lieben Freundinnen aus der Schulzeit. Die Sprösslinge meiner Kollegen. Ich frage
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