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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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es. Ich weiß es!
    Im Gebäude der Studentenvertretung, auf halbem Weg von der North Hall den Hügel hinunter, fand Coleman eine Telefonzelle im Korridor gegenüber der Cafeteria, in der die betagten Sommerstudenten ihr Mittagessen einnahmen. Durch die verglaste Doppeltür konnte er die langen Tische sehen, an denen die Paare bunt gemischt und gut gelaunt aßen.
    Jeff war nicht zu Hause - in Los Angeles war es jetzt zehn Uhr morgens, und es meldete sich nur der Anrufbeantworter, und so suchte Coleman in seinem Adressbuch nach der Nummer seines Büros in der Universität und hoffte, dass Jeff noch nicht im Seminar war. Was der Vater seinem ältesten Sohn zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub. Das letzte Mal hatte er Jeff in einem mit dem jetzigen vergleichbaren Zustand angerufen, um ihm zu sagen, dass Iris gestorben war. »Sie haben sie umgebracht. Sie wollten mich umbringen, aber statt dessen haben sie Iris erwischt.« Das war, was er allen gesagt hatte, und zwar nicht nur in den ersten vierundzwanzig Stunden. Das war der Beginn der Auflösung gewesen: Die Wut hatte ihn voll und ganz in Anspruch genommen. Doch das ist jetzt vorbei. Vorbei - das ist die Nachricht, die er seinem Sohn mitteilen will. Und sich selbst. Die Verbannung aus seinem früheren Leben ist vorbei. Er will zufrieden sein mit etwas weniger Grandiosem als dem selbst gewählten Exil und der übergroßen Anstrengung, die ihn das kostet. Er will bescheiden mit seinem Scheitern leben, sich wieder als ein vernunftbegabtes Wesen organisieren und den Schmerz und die Empörung aus seinen Gedanken verbannen. Wenn er unnachgiebig ist, dann will er es lautlos sein. Friedlich. Würdige Kontemplation - das ist die Sache, wie Faunia sagen würde. Er will auf eine Weise leben, die nicht an Philoktetes gemahnt. Er braucht nicht wie eine der tragischen Figuren aus seinen Seminaren zu leben. Dass einem das Ursprüngliche wie eine Lösung erscheint, ist nichts Neues - das tut es immer. Das Begehren verändert alles. Es ist die Antwort auf alles, was zerstört wurde. Aber den Skandal verlängern, indem man im Protest verharrt? Meine Dummheit in aller Munde. Meine Verblendung in aller Munde. Krasseste Sentimentalität. Wehmütige Erinnerungen an Steena. Scherzhaftes Tanzen mit Zuckerman. Ich habe mich ihm anvertraut, mit ihm meine Erinnerungen geteilt, ihn zuhören lassen. Sein schriftstellerisches Gespür für die Realität geschärft. Dem Geist des Schriftstellers, diesem unersättlichen opportunistischen Schlund, Nahrung gegeben. Er verwandelt jede Katastrophe in beschriebenes Papier. Für ihn ist eine Katastrophe nichts als Kanonenfutter. Aber in was kann ich dies alles verwandeln? An mir bleibt es hängen. So, wie es ist. Ohne Sprache, Gestalt, Struktur, Bedeutung - ohne die drei Einheiten, ohne die Katharsis, ohne alles. Es kommt nur noch mehr des unverwandelten Unvorhergesehenen. Warum sollte man mehr davon wollen? Und doch ist die Frau, die Faunia ist, das Unvorhergesehene. Orgasmisch verschmolzen mit dem Unvorhergesehenen. Konventionen unerträglich. Die Prinzipien der Rechtschaffenheit unerträglich. Der Kontakt mit ihrem Körper das einzige Prinzip. Nichts Wichtigeres als das. Und die Kraft ihrer Verächtlichkeit. Durch und durch anders. Der Kontakt damit . Die Verpflichtung, mein Leben ihrem Leben und seinen Launen unterzuordnen. Seinen Verirrungen. Seinen Nachlässigkeiten. Seiner Fremdheit. Der Genuss dieses elementaren Eros. Nimm den Hammer, den Faunia darstellt, und zerschlag alles Überlebte, all die überhöhten Rechtfertigungen. Brich durch die Mauer in die Freiheit. Freiheit wovon? Von der dummen Herrlichkeit, im Recht zu sein. Von der lächerlichen Jagd nach Bedeutung. Von dem immerwährenden Kampf um Rechtschaffenheit. Die Wucht der Freiheit mit Einundsiebzig, der Freiheit, ein ganzes Leben hinter sich zu lassen - auch bekannt unter der Bezeichnung Aschenbachscher Wahnsinn. »Und noch desselben Tages« - die letzten Worte von Tod in Venedig - »empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.« Nein, er braucht nicht wie eine tragische Figur in irgendeinem Seminar zu leben.
    »Jeff! Hier ist Dad. Dein Vater.«
    »Oh, hallo. Wie geht's?«
    »Jeff, ich weiß, warum du dich nicht gemeldet hast, warum Michael sich nicht gemeldet hat. Von Mark erwarte ich nicht, dass er sich meldet - und Lisa hat das letzte Mal, als ich sie angerufen habe, einfach aufgelegt.«
    »Sie hat mich angerufen. Sie hat's mir erzählt.«
    »Hör zu,

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