Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
lieber eine Krähe. Ja, ganz eindeutig. Kein Zweifel. Ich würde sehr gern eine Krähe sein. Wenn sie von irgendwem oder irgendwas wegwollen, brauchen sie nicht lange nachzudenken. Sie fliegen einfach weg. Sie brauchen nichts einzupacken. Sie fliegen einfach weg. Wenn irgendwas sie erwischt, dann war's das, dann ist es vorbei. Ein Flügel gebrochen - vorbei. Ein Fuß gebrochen - vorbei. Viel besser als so. Vielleicht komme ich als Krähe zurück. Was war ich, bevor ich als das, was ich bin, zurückgekommen bin? Ich war eine Krähe! Ja! Ich war eine Krähe! Und dann hab ich gedacht: »Ach Gott, ich wär so gern diese Frau da unten, die mit dem großen Busen.« Und dann ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen, und jetzt will ich um alles in der Welt wieder eine Krähe sein. Kräh, kräh! Ich will wieder meinen Status. Kräh. Kein schlechter Name für eine Krähe. Status. Kein schlechter Name für was Schwarzes, Großes. Status. Als Kind hab ich auf alles geachtet. Ich hab Vögel geliebt. Besonders Krähen und Falken und Eulen. Ich seh noch immer Eulen, nachts, wenn ich von Coleman nach Hause fahre. Dann muss ich einfach aussteigen und mit ihnen reden. Sollte ich nicht tun. Ich sollte direkt nach Hause fahren, bevor dieses Schwein mich umbringt. Was denken Krähen, wenn sie andere Vögel singen hören? Sie denken, dass das blöd ist. Ist es ja auch. Krächzen - das ist es. Zu einem Vogel, der so herumstolziert, passt es einfach nicht, ein schönes kleines Liedchen zu singen. Nein, krächz, was du kannst. Das ist die Sache: Krächz, was du kannst, hab keine Angst vor irgendwas und friss alles, was tot ist. Wenn man so fliegen will, muss man jeden Tag eine Menge überfahrene Tiere essen. Machen sich nicht die Mühe, sie irgendwohin zu schleppen, sondern fressen sie gleich auf der Straße. Wenn ein Wagen kommt, warten sie bis zum letzten Augenblick, und dann flattern sie weg, aber nur so weit, dass sie gleich wieder hinhüpfen können, wenn der Wagen vorbei ist. Fressen mitten auf der Straße. Ich frage mich, was passiert, wenn das Fleisch schlecht wird. Vielleicht wird es für sie gar nicht schlecht. Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe eines Aasfressers. Die Krähen und die Geier - das ist ihre Aufgabe. Sie kümmern sich um all die Dinge im Wald und auf der Straße, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. In dieser Welt bleibt keine Krähe hungrig. Sie findet immer was zu fressen. Wenn etwas verfault, drehen sich die Krähen nicht um und fliegen weg. Wenn etwas tot ist, sind sie da. Wenn etwas tot ist, kommen sie und holen sich's. Das gefällt mir. Das gefällt mir sehr. Friss den Waschbären, ganz egal, wie er aussieht. Warte darauf, dass ein Lastwagen das Rückgrat aufknackt, und dann geh hin und hol dir das leckere Zeug da drin, das du brauchst, um diesen schönen schwarzen Körper in die Luft zu schwingen. Gut, sie benehmen sich manchmal seltsam. Wie alle anderen auch. Ich sehe sie auf den Bäumen sitzen, dicht zusammengedrängt, und sie reden und schreien, und irgendwas ist los. Aber was es ist, werd ich nie rauskriegen. Es gibt da irgendwas Starkes, aber ich hab nicht die leiseste Ahnung, ob sie selbst wissen, was es eigentlich ist. Es könnte genauso sinnlos sein wie alles andere, aber ich wette, das ist es nicht. Ich wette, es ist eine Million Male sinnvoller als alles andere verdammte Scheißzeug hier unten. Oder nicht? Oder ist es vielleicht bloß ein Haufen Zeug, das anders aussieht, es aber in Wirklichkeit gar nicht ist? Vielleicht ist es bloß ein genetischer Tick. Oder Tack. Stell dir mal vor, die Krähen hätten das Sagen. Wäre das Leben dann genauso beschissen wie jetzt? Das Tolle an ihnen ist ja, dass sie so durch und durch praktisch sind. In der Art, wie sie fliegen. In der Art, wie sie miteinander reden. Sogar in ihrer Farbe. All diese Schwärze. Nichts als Schwarz. Vielleicht war ich mal eine, vielleicht auch nicht. Manchmal denke ich, dass ich jetzt schon eine bin. Ja, das denke ich seit Monaten hin und wieder. Warum nicht? Es gibt Männer, die in einem Frauenkörper stecken, und Frauen, die in einem Männerkörper stecken - warum sollte ich nicht eine Krähe sein, die in diesem Menschenkörper steckt? Ja, und wo ist der Arzt, der tut, was nötig ist, um mich daraus zu befreien? Wo kann ich mich operieren lassen, um das zu werden, was ich eigentlich bin? Mit wem muss ich sprechen? Wohin muss ich gehen und was muss ich tun und wie zum Teufel komme ich hier raus? Ich bin eine Krähe. Ich weiß

Weitere Kostenlose Bücher