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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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die ersten in ihren Familien, die hier zur Welt gekommen sind. Mein Vater war Wirt. Ich glaube, sein Vater, euer Urgroßvater, hatte in Russland eine Wirtschaft. Hat den Russkis Schnaps verkauft. »Haben wir irgendwelche Onkel und Tanten?« Mein Vater hatte einen Bruder, der nach Kalifornien ging, als ich noch klein war, und meine Mutter war ein Einzelkind wie ich. Nach mir konnte sie keine Kinder mehr bekommen - warum, weiß ich nicht. Der Bruder, der ältere Bruder meines Vaters, behielt den Namen Silberzweig - soviel ich weiß, hat er den geänderten Namen nie angenommen. Jack Silberzweig. Er war in der alten Heimat geboren, und darum behielt er den Namen. Bevor wir von San Francisco aus in See stachen, hab ich sämtliche kalifornische Telefonbücher durchsucht, um ihn zu finden. Er hatte sich mit meinem Vater zerstritten. Mein Vater hielt ihn für einen Faulpelz und wollte nichts mit ihm zu tun haben, und darum wusste niemand, in welcher Stadt Onkel Jack eigentlich lebte. Ich habe in allen Telefonbüchern gesucht. Ich wollte ihm sagen, dass sein Bruder gestorben war. Ich wollte ihn kennenlernen. Meinen einzigen lebenden Verwandten väterlicherseits. Es war mir egal, ob er ein Faulpelz war. Ich wollte seine Kinder, meine Vettern und Cousinen, kennenlernen, wenn es welche gab. Ich sah unter Silberzweig nach. Ich sah unter Silk nach. Ich sah unter Silber nach. Vielleicht hatte er in Kalifornien seinen Namen in Silber geändert. Ich wusste es nicht. Und ich weiß es noch immer nicht. Ich habe keine Ahnung. Und dann hab ich aufgehört nachzuforschen. Wenn man keine eigene Familie hat, beschäftigt man sich eben mit solchen Sachen. Aber dann wurdet ihr geboren, und ich machte mir keine Gedanken mehr über meinen Onkel und meine Vettern und Cousinen ... Jedes Kind hörte dieselbe Geschichte. Und der einzige, der sich nicht damit zufriedengab, war Mark. Die älteren Jungen stellten nicht viele Fragen, aber die Zwillinge waren hartnäckig. »Hat es früher schon Zwillinge in der Familie gegeben?« Soviel ich weiß - ich glaube, das hat man mir mal erzählt -, gab es mal einen Ur- oder Ururgroßvater, der ein Zwilling war. Das war die Geschichte, die er auch Iris erzählt hatte. Er hatte alles für Iris erfunden. Es war die Geschichte, die er ihr in der ersten Nacht in der Sullivan Street erzählt hatte, und dabei blieb er - sie war die Matrize. Und Mark war der einzige, der nie zufrieden war. »Woher kamen unsere Urgroßeltern?« Aus Russland. »Aber aus welcher Stadt?« Ich habe meinen Vater und meine Mutter gefragt, aber sie schienen es selbst nicht genau zu wissen. Einmal war es diese Stadt, ein anderes Mal eine andere. Eine ganze Generation von Juden war so. Sie wussten es eben nicht genau. Die alten Leute sprachen nicht viel darüber, und die in Amerika geborenen Kinder waren nicht so neugierig. Die waren stolz darauf, Amerikaner zu sein. Darum gab es in meiner Familie, wie in so vielen anderen, diese allgemeine jüdische Geografieamnesie. Wenn ich gefragt habe, kriegte ich immer die Antwort: »Russland.« Doch Markie sagte: »Aber Russland ist riesig, Dad. Wo in Russland?« Markie gab einfach keine Ruhe. Und warum? Warum ? Es gab keine Antwort. Markie wollte wissen, wer sie waren und woher sie stammten - all das, was sein Vater ihm nicht geben konnte. Und darum ist er orthodoxer Jude geworden? Darum schreibt er seine biblischen Protestgedichte? Darum hasst Markie ihn so? Unmöglich. Immerhin gab es da noch die Gittelmans. Die Großeltern Gittelman. Die Gittelman-Onkel und -Tanten. Kleine Gittelman-Vettern und -Cousinen, über ganz New Jersey verstreut. Reichte das nicht? Wie viele Verwandte brauchte er denn? Musste er auch noch Silks und Silberzweigs haben? Das konnte doch nicht der Vorwurf sein - das konnte nicht sein! Und doch überlegte Coleman, ob Markies brütende Wut mit seinem, Colemans, Geheimnis in Verbindung zu bringen war, so irrational das auch sein mochte. Solange Markie und er über Kreuz waren, konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken, und diese Gedanken waren nie quälender als jetzt, nachdem Jeff einfach den Hörer aufgelegt hatte. Was für eine Erklärung konnte es dafür geben, dass es diesen Kindern, die doch seine Wurzeln in ihren Genen trugen und sie an ihre eigenen Kinder weitergeben würden, so leicht fiel, ihn der schlimmsten Art von Grausamkeit an Faunia zu verdächtigen? Dass er ihnen nie etwas über ihre Familie erzählen konnte? Dass er es ihnen schuldig war, davon zu erzählen?

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