Der menschliche Makel
mich, wer ihnen das erzählt hat.«
»Es gab also keinen Selbstmordversuch«, sagte Jeff.
»Nein, Jeffrey, es gab keinen Selbstmordversuch. Und, soviel ich weiß, auch keine Abtreibung.«
»Dann ist ja alles gut.«
»Und wenn doch? Wenn ich diese Frau tatsächlich geschwängert hätte und sie eine Abtreibung hätte machen lassen und sie danach versucht hätte, sich umzubringen? Stell dir mal vor, Jeff, sie hätte sich tatsächlich umgebracht. Was dann? Was dann, Jeff ? Die Geliebte deines Vaters bringt sich um. Was dann? Wendest du dich gegen deinen Vater? Deinen verbrecherischen Vater? Nein, nein, nein, Jeff - gehen wir noch mal zurück, einen Schritt zurück, zu dem Selbstmordversuch ! Ha, das ist gut. Ich frage mich, wer sich das ausgedacht hat, diesen Selbstmordversuch. Versucht sie wegen der Abtreibung, sich umzubringen? Lass uns dieses Melodram, das Lisa von ihren Freundinnen gehört hat, ergründen. Weil sie keine Abtreibung will ? Weil ihr die Abtreibung aufgezwungen wurde? Ah, jetzt verstehe ich. Jetzt verstehe ich die Grausamkeit. Eine Frau, die ihre beiden kleinen Kinder bei einem Brand verloren hat, wird von ihrem Geliebten schwanger. Sie ist überglücklich. Ein neues Leben. Eine neue Chance. Ein neues Kind, das die beiden toten ersetzen wird. Aber der Geliebte sagt Nein und schleift sie an den Haaren zum Abtreibungsarzt, und dann, nachdem er ihr seinen Willen aufgezwungen hat, nimmt er ihren nackten, blutenden Körper -«
Inzwischen hatte Jeff aufgelegt.
Aber Coleman brauchte Jeff nicht mehr, um weiterzumachen. Er brauchte nur die Paare der Sommerstudenten zu sehen, die in der Cafeteria ihren Kaffee austranken, bevor sie wieder in ihre Seminare zurückkehrten, er brauchte nur zu hören, wie sie entspannt plauderten und ihren Spaß hatten, die anständigen Senioren, die aussahen, wie sie aussehen sollten, und klangen, wie sie klingen sollten, und schon dachte er, dass nicht einmal die konventionellen Dinge, die er getan hatte, ihm irgendeine Erleichterung brachten. Nicht nur, dass er Professor gewesen war, nicht nur dass er Dekan gewesen war, nicht nur, dass er trotz allem immer mit derselben großartigen Frau verheiratet gewesen war, sondern auch, dass er eine Familie, dass er intelligente Kinder hatte - das alles brachte ihm gar nichts. Wenn irgendwelche Kinder imstande sein sollten, das zu verstehen, dann doch seine. All die Vorschulerziehung. All das Vorlesen. Die Enzyklopädien. Die Vorbereitungen auf die Klassenarbeiten. Die Gespräche beim Abendessen. Die endlosen, von Iris, von ihm gegebenen Erklärungen der Vielgestaltigkeit des Lebens. Die Betrachtungen über Sprache. All das Zeug, das wir getan haben, und dann kommen sie mir mit dieser Mentalität? Nach all den Schulen, all den Büchern, all den Worten, all den überragenden Noten ist das einfach unerträglich. Nachdem wir sie immer ernst genommen haben - sogar wenn sie etwas Dummes gesagt haben, sind wir immer ernsthaft darauf eingegangen. Nachdem wir so großen Wert auf die Entwicklung der Vernunft, des Geistes, des fantasievollen Mitgefühls gelegt haben. Und auch auf die Skepsis, die sich auf Fakten stützende Skepsis. Auf selbstständiges Denken. Und dann glauben sie dem erstbesten Gerücht? All die Erziehung, aber sie hilft gar nichts. Nichts kann sie vor den niedrigsten Gedanken schützen. Nicht einmal die Frage: »Aber sieht das unserem Vater ähnlich? Klingt das so, als könnte es stimmen?« Stattdessen haltet ihr euren Vater für einen klaren Fall. Ihr durftet nie fernsehen, und trotzdem verhaltet ihr euch wie in einer Seifenoper. Ihr durftet nur die griechischen Klassiker oder Gleichwertiges lesen, und nun verwandelt ihr das Leben in eine viktorianische Seifenoper. Ich habe eure Fragen beantwortet. Alle eure Fragen. Ich habe nie eine übergangen. Ihr habt mich nach euren Großeltern gefragt, ihr habt mich gefragt, wer sie waren, und ich habe es euch gesagt. Eure Großeltern sind gestorben, als ich noch jung war. Grandpa, als ich auf der Highschool war, Grandma, als ich in der Navy war. Als ich aus dem Krieg zurückkam, hatte der Vermieter schon längst alles auf die Straße geworfen. Es war nichts mehr da. Er sagte, er habe es sich nicht leisten können, bla, bla, bla, er habe keine Miete mehr bekommen. Ich hätte dieses Schwein umbringen können. Fotoalben. Briefe. Sachen aus meiner Kindheit, aus ihrer Kindheit, alles, alles weg, das ganze Zeug. »Wo waren sie geboren? Wo haben sie gelebt?« Sie waren in New Jersey geboren,
Weitere Kostenlose Bücher