Der Metzger geht fremd
nur mehr mit einem Auge sieht. Heftig pulsiert das andere. Trotz seiner regelmäßigen Abreibungen als gepiesackter Gymnasiast ist ihm so ein blau-grüner Farbklecks, den seine Mitschüler durchaus mit Stolz durch die Gegend schleppten, bisher erspart geblieben. Für den Erhalt eines derartigen Dokuments an Heldenmut und Wehrhaftigkeit hatte die schlagende Burschenschaft seines Jahrgangs den Waschlappen Willibald als nicht würdig erachtet. Seinem Gesicht wurden kosmetische Eingriffe ausschließlich mit der flachen Hand verabreicht, und ein Knabe, der mit diesem entwürdigenden Abdruck an der Wange durchs Schulhaus marschieren musste, konnte kaum noch deutlicher als Außenseiter gekennzeichnet sein. Mit einem Veilchen gehörte man dazu. Der Metzger ist nun trotzdem auf sich allein gestellt.
Wie lange die Fahrt gedauert hat, weiß er nicht, auch nicht, wie er hier heraufgekommen ist. Was er allerdings weiß, ist, und das erfüllt ihn mit Todesangst, wo er sich gerade befindet, und das, obwohl diesmal keine Sonnenstrahlen durch die Dachziegelritzen in den unbeleuchteten, düsteren Raum dringen.
Es ist ein Albtraum, geht es dem Metzger durch den Kopf, wahrscheinlich genauso wie dem Hausherrn zu seiner Rechten. Hans Hirzinger sitzt, mit verklebtem Mund, vorgestreckten Armen und dünnen Spagatschnüren gefesselt, wie ein Häufchen Elend im Schneidersitz auf den staubigen Holzbrettern seines eigenen Dachbodens. Hände und Füße sind mehrfach umwickelt und zusätzlich aneinandergebunden. Aus dem harschen, einst stolzen Gesicht blicken angsterfüllte Augen zum Metzger herüber, der sich in der gleichen körperlich eingeschränkten Verfassung befindet.
Völlig sinnlos, auch nur einen Gedanken an das Thema Flucht zu verschwenden. Scharf schneidet ihn der straff um die Hand- und Fußgelenke gezogene Bindfaden in die Haut.
Heftig pocht sein Hinterkopf, und seine Nase ist immer noch erfüllt von dem Geruch des Betäubungsmittels. Es dauert nicht lange, dann öffnet sich die Tür. Alexander Friedmann betritt, gefolgt von Edgar, den Dachboden.
»Bist du ein Braver, so ein Braver!«
So ein Trottel, geht es dem Metzger durch den Kopf. Kann ein Hund wirklich dermaßen unterbelichtet sein, dass ihn in Anbetracht einer solchen Situation nicht wenigstens ein Fünkchen Mitleid, ein erhellender Gedanke oder das Aufblitzen einer Idee durchzuckt. Dann zuckt der Metzger. Ein brennender Schmerz zieht sich über sein Gesicht. Jetzt weiß der Willibald definitiv, wie grausam die an den Haaren herbeigezogene weibliche Praktik ist, erhitzte Wachsstreifen an diversen Körperstellen zuerst abkühlen und dann mit einem kurzen Ruck wieder entfernen zu lassen, nur um dem erbarmungslosen Diktat der Mode zu entsprechen.
Zumindest kann der Metzger nach Entfernung des Klebestreifens wieder reden und beginnt trotz des heftigen Spannungsgefühls um seinen Mund sofort das Gespräch: »Warum?«
»Warum was, Herr Metzger? Warum Sie hier sind zum Beispiel? Schaun Sie, misstrauisch war ich ja schon immer. Zuerst hör ich durchs Fenster, wie Ihnen Frau Hackenberger von meinem längeren Aufenthalt erzählt, dann fragen Sie ständig irgendwie versteckt nach meiner Familie, und dann sehn Sie diesen Koffer in meinem Auto und wollen wissen, ob vielleicht doch nicht ich das Zimmer meines Vaters geräumt hab. Dann kugeln, nachdem Sie der Benedikt am Sonntag entführt hat, Ihre Notizen mit dem Hirzinger-Friedmann-Stammbaum am Boden meines Lieferwagens herum, und schließlich find ich auch noch in Ihrem Jackett, während Sie in meiner Wohnung auf dem Klo hocken, eine wahre Sammlung kleiner Schätze. Das Telefon meines Vaters, die von mir selbst verfassten Briefe, übrigens beides Gegenstände, die nur im Zimmer meines Vaters gelegen haben können, ja, und eines meiner Taschentücher. Jetzt ist mir auch klar, warum Sie mich vorhin so angestarrt haben und Ihnen so schlecht geworden ist. Da waren Sie eindeutig ein bisserl zu neugierig, ganz abgesehen von Ihrem Besuch im Spital, Herr Metzger. Glauben Sie, meine Mutter hat mir das nicht erzählt, und glauben Sie, ich geh ein Risiko ein? Nach so vielen Jahren!«
Beim letzten Satz wendet er den Blick hasserfüllt seinem Großvater zu.
»Mir tut es leid um Sie, wirklich. Ich mag Sie. Aber hier geht es um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, um die man sich auf dieser verdammten Welt selbst zu kümmern hat. Es gibt weder einen gerechten noch einen gnädigen Gott. Deshalb sind wir hier!«
Alexander Friedmann setzt sich in den
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