Der Metzger geht fremd
Schlafmittel, mit dem Auto weggebracht hat. Ich hab sie nie wiedergesehen!«
Hans Hirzinger würgt und erbricht. Keine Regung ist Sascha Friedmann anzusehen. Mit eiskalter Miene bewegt er seinen vorgestreckten Arm und führt den Brief noch näher an das Gesicht seines ermatteten Großvaters heran. Der versteht die Botschaft und setzt wie in Trance mit monotoner Stimme fort:
»Ich wurde als Vollwaise in jungen Jahren vom Hirzinger-Bauern als Knecht aufgenommen, und trotz der ständigen
Züchtigung war ich froh über ein Zuhause. Damals, als ich am Tag Deiner Geburt zu Deiner Mutter wollte, hätte mich Dein Großvater fast erschlagen. Auch für Luise wurde alles zum Albtraum.
Während Paula mit Dir schwanger war, wurde Luise genötigt, ihre große Liebe, Ferdinand Anzböck, zu belügen, zu verlassen und mich, den Knecht, zu ehelichen. Im Winter wurde sie mit ausgestopftem Bauch vor aller Augen meine Frau. Ich wurde in der kirchlichen Heiratsurkunde ordnungshalber um zwei Jahre älter gemacht, und Du wurdest das gemeinsame Kind unserer Ehe. Ein Kind, dem wegen seiner wahren Herkunft die Taufe versagt wurde, ein Kind, das vom Großvater verachtet wurde, Du weißt das, und ich war hilflos.
Luise hat uns gehasst, Dich und mich, wir wurden zum Symbol für ihre verlorene Liebe, ihr verlorenes Leben. Auch sie war eine Gefangene. Dein Großvater hat sie beherrscht und gebrochen, wie und wann es ihm möglich war, und mich gezügelt wie einen Ackergaul. Zwei Jahre nach Dir kam Clara zur Welt, und bei Gott könnte ich wieder schwören, dass die Ehe zwischen Luise und mir bis zu diesem Zeitpunkt nie vollzogen wurde. Wir sind uns nicht einmal auf dieselbe Art nähergekommen wie einst Paula und ich.
Irgendwann haben Luise und ich schließlich verstanden, dass wir durch ein schweres Schicksal verbunden sind, und uns zumindest ertragen gelernt. In den wenigen Momenten der Nähe sind Deine beiden Brüder Alexander und Benedikt entstanden. Das Einzige, was ich bis heute tun konnte, war, der Arbeit nachzugehen, als Fremder und Knecht, der ich am Hirzinger-Hof geblieben bin. Vielleicht findest Du nach diesen Zeilen den Weg zu mir.
Du musst dafür nicht zum Hirzinger-Hof, denn ich werde nicht dort sein. Ich geh nicht mehr zurück, um keinen Preis der Welt. Nie wieder. Ich bete zu Gott, dass Du mir irgendwann vergeben kannst und mich zu Dir lässt, eines Tages!«
Hans Hirzinger ist mittlerweile fast nicht mehr zu hören. Mit kaum vernehmbarer Stimme liest er die letzten beiden Wörter:
»Dein Vater.«
Alexander Friedmann erhebt sich und klebt seinem Großvater erneut den Mund zu. Dann setzt er sich vor den völlig erstarrten Metzger auf den staubigen Boden.
60
L UISE IST GEGANGEN . Nichts ist, wie es war. Nichts.
Jetzt versteht er die letzten Worte, die sein Vater am Ufer des Sees zu ihm gesprochen hat: »Du bist hier, um dich selbst kennenzulernen!«
Und seit er sich kennt, kann er verzeihen.
Irgendwann, da war sie noch mitten im Erzählen, hat er nach ihrer Hand gegriffen. Und während sie die Szenen seiner Geburt, der sie beizuwohnen hatte, beschrieb, während sie ihm schilderte, wie ihre jüngere Halbschwester Paula vor Schmerzen schrie und plötzlich unglaubliche Dinge herausbrüllte, wie ihr Vater, der Hirzinger-Bauer, diese Dinge nicht hören wollte und ihr mit Gewalt, trotz herausgestreckter Zunge, die Kiefer zusammenpresste, wie Paulas Mutter zusammensackte und von da an gebrochen war, wie Paula nahe am Tod vom Pfarrer einfach weggekarrt wurde wie ein Stück Vieh zum Schlächter, während er dies alles hören musste, wurde ihm klar: Er kennt seine wahre Mutter, er kennt ihr Gesicht, er weiß, wie sie riecht. Sie war es, die mit abgetrenntem Finger in seinem Zimmer lag. Jetzt weiß er auch, wo er sie finden kann.
Heimlich, so erzählte Luise weiter, habe sie den Kontakt zum Kloster und damit indirekt zu Paula gehalten, ohne ihr jemals wieder persönlich begegnet zu sein. Und wie dann August-David gesundheitshalber zum ersten Mal für längere Zeit den Hof verlassen musste, habe sie aus Schuldgefühlen den Drang verspürt, Paula darüber zu informieren.
Am Ende ihrer Geschichte saß Luise still an seinem Bett. Aus ihren Augen blickte eine Müdigkeit, als hätte sie nach großen Irrwegen endlich ans Ziel gefunden. Lange haben sie sich einfach nur gehalten.
Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, sie lässt sich nur untergraben, um in der aufgelockerten, gedüngten Erde immer wieder einen Anfang zu setzen. Es ist
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