Der Metzger geht fremd
Staub, nimmt Edgar auf seinen Schoß und krault ihm das Fell.
»Wollen Sie eine Geschichte hören, die nicht das Leben geschrieben hat, sondern der Teufel? Dieser Teufel hier!« Dabei deutet er auf Hans Hirzinger und schaut weiter dem Metzger in die Augen. »Wollen Sie?«
Es ist ein tiefer, beinah liebevoller Blick.
»Es war nicht gelogen, was ich da bei unserem lauschigen Abend auf der Hackenberger-Terrasse zu Ihnen gesagt hab. Ich wollte meinen Vater kennenlernen, mehr nicht. Mehrmals bin ich zu ihm in die Kuranstalt gefahren, und was, glauben Sie, ist dort passiert? Er hat mich hauptsächlich angeschwiegen, einfach nur angeschwiegen. Am zweiten Tag war dann unter den wenigen Sätzen, die er für mich übrig hatte, die Bitte dabei, ihm vom Zimmer seine Schwimmbrille zu holen. Das hätte er nicht tun dürfen. Denn da hab ich ihn dann kennengelernt. Gefunden hab ich nämlich einen fertig verfassten Brief. Nicht an mich, sondern an seinen Erstgeborenen! Nicht an mich, der tagein, tagaus mit ihm zusammenlebt, sondern an Xaver, der seit zwanzig Jahren weg ist. Und diesen Brief, Herr Metzger, den lassen wir uns jetzt vorlesen. Eine passendere Person kann es dafür gar nicht geben.«
Sascha Friedmann reißt seinem Großvater den Klebestreifen vom Mund, setzt ihm eine Brille auf und hält ihm einen Zettel vors Gesicht: »Lies!«
Hinter den Gläsern schimmern glasige Augen. Hans Hirzinger weiß nicht, wie ihm geschieht, zögerlich betrachtet er das Blatt Papier.
»Lies!«, wiederholt Alexander Friedmann deutlich eindringlicher.
Ein unsicheres Räuspern ertönt zur Einleitung, dann beginnt Hans Hirzinger vorzutragen. Seine Stimme ist brüchig:
»Lieber Xaver!
Das Leben hat uns hier zusammengeführt. Dich, mich und Ferdinand Anzböck. Und ich bin diesem Zufall dankbar, denn er hat mich aufgeweckt. Dass Du Dich mir gegenüber verschließt, kann ich Dir nach all den Jahren nicht verübeln. Trotzdem: Du musst erfahren, was Dir als Wissenfür den Rest Deines Lebens zusteht:
Du bist nicht der Sohn von Luise.
Du bist der Sohn ihrer jüngeren Schwester Paula!«
Hans Hirzinger versagt die Stimme. Er hüstelt. Etwas Speichel hat sich in Form kleiner Bläschen in seinen Mundecken angesammelt. Mit leiser Stimme sagt er: »Ich, ich kann nicht!«
»Was sagst du da? Du kannst nicht! Du? Bei dem, was du alles können hast?«
Ein Handrücken saust ins Gesicht des alten Mannes. Wie ein Sack kippt er zur Seite. Edgar läuft winselnd ins Dunkel des Dachbodens.
»Herr Friedmann, ich bitte Sie!«
Als ob der Metzger nicht anwesend wäre, übergeht Alexander Friedmann diese Bemerkung und zieht seinen Großvater an den Haaren zurück in die Sitzposition.
»Sind sie dir nicht einmal ein paar gelesene Zeilen wert, deine eigenen Kinder?«
Immer noch die Haare umfassend, nähert er sich ganz dicht dem faltigen Gesicht und flüstert hasserfüllt: »Lies.«
Hans Hirzinger weint. Es sind stille Tränen, ohne Gejammer, ohne Grimasse. Tränen, die keinen Trost erhoffen. Die Zeit steht still, ein sanfter Wind pfeift durch die Balken des Dachstuhls, draußen regnet es. Leise trommeln die Tropfen ihren Rhythmus auf die Schindeln und begleiten mit wogender Sanftheit die gesprochenen Worte.
Hans Hirzinger beginnt erneut aus August-David Friedmanns Brief vorzulesen, immer wieder muss er kurz absetzen:
»Deine Mutter war bei Deiner Geburt erst fünfzehn, und ich war siebzehn. Ich weiß zwar nicht, wie Du es ins Leben geschafft hast, denn bei Gott hätte ich damals schwören können, dass das, was ein Kind entstehen lässt, zwischen Paula und mir nie vollzogen wurde, trotzdem: Wir haben uns geliebt, unendlich geliebt, und kamen uns dabei auch körperlich näher. Das hat offenbar gereicht. Paula wurde schwanger, wie eine Verbrecherin gefangen gehalten und sofort nach Deiner Geburt aus Schande über ihre verlorene Jungfräulichkeit von ihrem Vater verstoßen. Sie hätte Deine Geburt beinah nicht überlebt. Ihre Zunge muss sie sich vor Schmerzen durchgebissen haben, ihre Fingernägel waren eingerissen, kein Arzt, keine Hebamme waren dabei, nur ihre Halbschwester, also Deine Ziehmutter Luise, ihr Vater, der Hirzinger-Bauer, und ihre Mutter Anna. Sie hatte damals keinerlei Einfluss und war zu unterwürfig, um irgendetwas einzuwenden, so wie ich. Anna Hirzinger starb noch im selben Jahr. Ich musste während Deiner Entbindung in der Stube gemeinsam mit dem jungen Pfarrer Bichler warten. Er war es, der Paula, ruhiggestellt durch ein starkes
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