Der Metzger geht fremd
und Promille-Grenzüberschreitung zur nächsten, den Blick dabei immer nach vorn gerichtet. Der gemächliche Gleiter allerdings bemerkt, was sich links und rechts des Weges so abspielt. Und dass der Mensch umso besser sieht, je mehr er zum Sehsinn bedächtig sein Herz dazuschaltet, ist ja kein Geheimnis.
Bei einer gedrückten Stimmung läuft nun das Gefühlszentrum von vornherein schon auf Hochtouren, besonders wenn sich vor Kurzem das eigene Ende deutlich abgezeichnet hat. Entsprechend anlehnungsbedürftig ist auch der Metzger. Und anlehnungsbedürftig sein kann der Willibald seiner anschmiegsamen Danjela gar nicht genug.
Schön ist das, wenn sich zwei Schultern in der Mitte treffen, aneinanderkippen und sich vorm Umkippen bewahren, wenn dieses symbolisch verkehrte V, dieses Dach, wie ein sicheres Notquartier zwei Menschen davor beschützt, weiter allein im Regen stehen zu müssen.
Mehr Niederschlag könnte der Willibald momentan auch nicht ertragen. Zu sehr kämpft er mit den Ereignissen der letzten Tage und einer düsteren Erkenntnis:
Die größten Enttäuschungen und Dramen finden innerhalb der Familie statt. Dort, wo Menschen unter der Gnade eines erfolgreichen Zeugungsakts das Recht verstehen, hinter verschlossenen Türen mit dem entstandenen Leben tun und lassen zu können, was sie wollen. Genau dort erweist sich für das entstandene Leben der erfolgreich vorangegangene Zeugungsakt nicht immer als Gnade.
Und während die einen vergeblich alles unternehmen, um ihrer Liebe ein Gesicht, einen Namen und eine Stimme zu geben, schmeißen die anderen ihre Kinder aus dem Fenster, werfen sie in den Müll oder stecken sie in Brand.
Sie haben lange keinen Fernseher gehabt, der Willibald und seine Mama, und heute noch liegt ihm der Duft in der Nase, wenn ihn seine Erinnerung an der mütterlichen Hand zum Seitenaltar der kleinen Kirche ums Eck schickt, vor dem er zuerst mit einem Streichholz ein Kerzerl entzünden und es dann zu den anderen flackernden Lichtlein stellen durfte.
»In die Reihe ganz unten«, hat seine Mutter immer gesagt, »damit wir schön bescheiden bleiben!«
Das mit dem Kerzerl hat zeitgleich mit der Anschaffung des Fernsehers aufgehört. Kurz gefunkt und gerochen hat es zwar auch ein wenig beim Einschalten, aber das, was es zu sehen gab, gab so wenig Grund zur Hoffnung, dass sie dann bei den Nachrichten auch immer was mit »ganz unten« gesagt hat, seine Mutter: »Jetzt ist der Mensch ganz unten gelandet. Nein, Willibald, auf dieser
Erde gibt es keinen Gott. Gott hat die Menschen längst sich selbst überlassen, da hilft auch kein Lichtlein mehr! Und am ärmsten dran sind die Kinder!«
Dann hat sie ihn zu sich gedrückt, den Willibald. Und zu sich gedrückt hat sie ihn erst, da war sein Vater längst ausgezogen.
Der Metzger weiß, welch großes Geschenk ihm mit seiner Mutter bereitet wurde. Sie hat ihn nicht nur geboren, sie hat ihm auch sein Leben gegeben, und gerade das ist nicht selbstverständlich.
Ein einziger ich- und herrschsüchtiger Mensch reicht in Verbindung mit der oft als Harmoniebedürfnis hingestellten Widerspruchslosigkeit der anderen aus, um eine ganze Sippschaft mit tief gehenden Brandmalen zu versehen.
Es kann der einzige Weg ins eigene Leben sein, seine Ursprungsfamilie zu verlassen, und es kann der schlimmste Weg aus dem eigenen Leben sein, von der Familie, deren Ursprung man selbst ist, verlassen zu werden.
Die Straßen sind voll von einsamen Geflohenen und verlassenen Einsamen.
Ohne die Hand seiner Danjela würde im Willibald ein Gewitter niedergehen und ihn innerlich überfluten, auch weil er mit all seinen dunklen Gedanken nicht an der eigenen Herkunftsgeschichte vorbeikommt.
Da ist es wirklich ein Segen, mit welcher Entschlossenheit sich die Djurkovic ganz der Verwirklichung ihrer für diese Tage festgelegten letzten Grundsäule der Rehabilitation widmet: »Machen wir hier jetzt nur, was wirklich ist gut für Erholung, für Herz, für gute Gedanken, wo ist gute Atmosphäre, ohne Stress und ohne viele Leute!«
Lediglich gestört von kurzen Unterbrechungen durch die Polizei oder den verständlicherweise wissbegierigen Professor Berthold, gelingt es den beiden überraschend gut, dieses Baumeln der Seelen.
Ein Baumeln, das es in keinem Reisebüro zu buchen gibt. Denn die Seele auf Knopfdruck baumeln lassen, als wäre sie der rechte Arm, das linke Bein, der füllige Bauch oder andere Kleinigkeiten, das geht nicht. Wie kann etwas zwischen Hin- und Rückcharterflug
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