Der Metzger geht fremd
schon etwas Mystisches, etwas Überwältigendes, ja etwas Schönes an sich, und an sich hätte da ab einem gewissen Zeitpunkt jeder der Zuschauer das Verlangen, seiner Faszination Ausdruck zu verleihen, läge da nicht in der Mitte der Gruppe ein niedergeschlagener Hirzinger-Bauer. Wenn einem vor den eigenen Augen das eigene Haus niederbrennt, ist das alles andere als ein schöner Anblick. Da reißt sich jeder so gut als möglich zusammen. Wobei bei offenherzigen Kindern der Maßstab »so gut als möglich« anders anzusetzen ist. Ruhig sitzen zu bleiben und nur ab und zu verhalten seinem Erstaunen durch festes Papa-und-Opa-Händedrücken Ausdruck zu verleihen ist in Anbetracht eines derart epochalen Ereignisses und der Horde löschbegieriger Feuerwehrleute wirklich schon eine herausragende Leistung.
Wie sich die Franzi Kaiser beim ersten großen Aufflackern eines sich erneut entzündenden Feuerherds ein unüberhörbares »Pfaaahhhh!« schließlich doch nicht verkneifen kann, spürt der Hirzinger nicht nur den Verlustschmerz über sein verlorenes Hab und Gut, sondern auch die Schmerzen im Bein. Heilfroh ist er, wie dann der Krankenwagen eintrifft und ihn endlich fortbringt von diesem traurigen Ort – vor aller Augen. Beinah das ganze Dorf ist mittlerweile anwesend. Beinah, denn wenn man davon ausgeht, wie wichtig sich eine gewisse Person selbst nimmt, kann dieses »aller Augen« durchaus ganz im Sinn der ersten Zeile einer entsprechenden Heinrich-Schütz-Motette verstanden werden: »Aller Augen warten auf dich, Herre!«
Er fehlt natürlich niemandem, und warum er fehlt, ist jedem im Dorf bekannt. Jedem, nur nicht der kleinen Franzi Kaiser.
»Wo ist denn der Affe?«, nimmt es eine Kinderstimme mit dem Brandlärm und dem Gerede der gaffenden Menschenmassen auf. Und das hat natürlich jeder gehört.
»Franzi!«, maßregelt Günther Kaiser seine Tochter mit aufgesetzt erbostem Gesichtsausdruck.
Wobei es besser gewesen wäre, es kommentarlos bei der kindlichen Frage zu belassen, denn Franzi Kaiser korrigiert sich nun selbst und verdeutlicht damit allen Anwesenden, wen sie mit dem »Affen« gemeint hat.
»Wo ist denn der Herr Pfarrer?«
»Auf Urlaub!«, flüstert ihr der Reindl-Bauer ins Ohr.
»Ein Pfarrer hat Urlaub?«
»Ja, Franzi! Und unserer fährt immer ins Heilige Land und geht im Meer baden!«
»Im Meer! Schöööön. Papa, ich will auch einmal im Meer baden!«
»Ist schon gut, Franzi!«
»Und wo ist das Meer?«
Dass es die Hauptschulbildung des greisen Reindl-Bauern mit dem Wissen eines heutigen Maturanten aufnehmen kann, stellt er nun eindrucksvoll unter Beweis: »Fast überall. Das, wo unser Pfarrer baden geht, heißt zum Beispiel Östliches Mittelmeer. Das Heilige Land liegt sogar an drei Meeren: am Mittelmeer, am Roten Meer und am Toten Meer!«
»Das sind aber komische Namen!«
Sie werden ihrem Namen noch alle Ehre machen.
Einen Moment lang herrscht knisternde, prasselnde Stille.
Und während der Hirzinger-Hof donnernd in sich zusammenbricht, bricht sie aus dem Metzger heraus, die ganze dankbare Liebe.
So fest, wie er wohl noch nie gedrückt wurde, außer gemeinsam mit seinen drei Geschwistern auf dem Weg durch den Geburtskanal, umarmt der Metzger seinen stinkenden Hund, und es geht dem Restaurator dabei wie während eines Herz-Schmerz-Films auf dem durchgesessenen Djurkovic-Sofa. Hilflos verliert er den Kampf gegen die Tränen: »Edgar, mein Junge. Du hast mir heute das Leben gerettet!«
Nie wieder wird ihm vor dieser kleinen Zunge grausen.
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M IT DEN E INVERNAHMEN DER P OLIZEI dringt eine Geschichte ans Tageslicht, die die Menschen im Dorf und die Männer beim Postwirt erschüttert und mit neuem Gesprächsstoff versorgt.
Ein Zeitchen wird die Bestürzung anhalten, dann langsam vom aufgeregten Tratsch in ein »Ich hab's ja immer schon gewusst«-Geschwätz übergehen und sich schließlich in den belanglosen Menüplan der Tageskarte einordnen. Sie wird kommen, die alte Kost, ganz bestimmt. Die Sündenböcke werden die Gleichen bleiben, die Rollen derer, die nun fehlen, werden andere übernehmen müssen, ob sie wollen oder nicht, und der legendäre Schweinsbraten wird legendär bleiben, egal, wer ihn zubereitet oder wer ihn serviert. Nur die Schriftzüge der
Namensschilder auf den Bankreihen in der Kirche werden allmählich zu Vorlagen für die Grabstein-Inschriften draußen auf dem Friedhof.
Die einzigen Betroffenen werden die Täter und die Opfer bleiben, die Zuschauer drehen so lange
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