Der Metzger geht fremd
Blick übers Land schweifen. Kein Mensch weit und breit, nur er, Willibald Adrian Metzger. Wobei er darüber nachzudenken beginnt, ob es in Mitteleuropa überhaupt Regionen gibt, denen man den Menschen nicht ansieht. Denn obwohl er hier keinen Vertreter seiner Art erspäht, es menschelt doch gewaltig. Der Kondensstreifen am Himmel, das Marterl, das Bankerl, die auf der Wiese abgestellten Kühe, die Straßen und Wege, die Felder und Zäune, der Vierkanthof am gegenüberliegenden Hang, die gestapelten Baumstämme am Waldrand, der dort geparkte dunkelblaue Kastenwagen.
Ja, so ein Wald macht viel Arbeit; was allerdings ein Herr, wahrscheinlich Xaver Friedmann, wenn das auch wirklich sein Vorname oder Wagen ist, so im Wald zu suchen hat, gibt doch einige Rätsel auf. Möglicherweise brockt er nur ein paar Himbeeren, grübelt der Metzger, beißt in sein Brot mit Eibelag und holt abermals tief Luft. Zum ersten Mal, seit er in dieser Gegend ist, strömt Ruhe durch seinen geschundenen Leib. Das hat schon was, einfach nur irgendwo sitzen und schauen. So lange schauen, bis es nichts mehr zu sehen gibt. Bis der Blick ins Leere einsetzt und alles freigibt. So hockt er auf seiner Bank, der Metzger, verzehrt genüsslich sein Bauernbrot, trotz der Übermacht von Kümmel und vor allem Fenchel, ein Gewürz, das auf seiner lukullischen Sympathieskala zusammen mit Anis ziemlich weit unten kurz vor Ketchup steht, und entspannt sich völlig, während die Sonne langsam den Himmel hinunterwandert.
Hinunterwandern, denkt sich der Metzger, wenn heute noch bewegen, dann eventuell hinunterwandern. Aber hinaufradeln? Unmöglich! Und je länger er so sitzt, desto utopischer erscheint ihm dieser Gedanke. Da sich die Bank mit ihrer hervorragenden Aussicht durchaus als Hochsitz eignet, beschließt Willibald Adrian Metzger, seinen Platz zur Beobachtung alternativer Beförderungsmittel zu nutzen. Lang kann es ja nicht dauern, bis der Friedmann endlich wieder aus seinem Wald heraußen ist.
Es dauert dann aber doch ein Zeitchen, die Jause ist längst verbraucht, das Jackett mit aufgestelltem Kragen längst da, wo es hingehört, die Sonne längst auf Tuchfühlung mit dem Horizont. Dann starten sie endlich, der Transporter und der Metzger, wobei Letzterer sich tatsächlich zu einem kleinen Laufschritt hinreißen lässt. Jetzt die Mitfahrgelegenheit zu verpassen wäre höchst ungemütlich. Beim Rad angelangt, ist er so außer Atem, als wäre er tatsächlich bergauf unterwegs gewesen. Verhältnismäßig gesittet kommt schließlich der dunkelblaue Kastenwagen um die Kurve, blinkt links, schert aus, fährt vorbei und dem engen Straßenverlauf folgend hinein in das unmittelbar beginnende Waldstück. Dem Metzger bleibt das Herz stehen: »Ja, fährt der jetzt einfach weiter? Das darf doch nicht wahr sein!«
Unausgesprochene Erwartungen können gestrichen in die Hose gehen.
28
Z UM G LÜCK IST DAS M ARTERL außer Sichtweite, denn dem freundlichen Jesus würde in Anbetracht des fluchenden Willibald das Lächeln ganz schön vergehen. »Himmelherrgott!«, tönt es in den sich auftuenden Wald, der entsprechend der Tageszeit nur mehr wenig Licht abbekommt. Kaum dass der Metzger die erste Baumreihe hinter sich hat, sieht er ihn in einem abzweigenden Forstweg am Straßenrand stehen, den dunkelblauen Kastenwagen.
»Tut mir leid, ich war in Gedanken und hab zu spät reagiert!«, ruft ihm Herr Friedmann entgegen.
Wenn man den Himmel und den Herrgott gleichzeitig anruft, hilft es offensichtlich. Dem Metzger hüpft das Herz: »Da bin ich jetzt aber wirklich sehr froh!«
»Hätten Sie mich angerufen, war ja irgendwie ausgemacht – nicht?«
Ein spitzbübischer Blick wird dem Metzger zugeworfen, der umgehend reagiert: »Das ist nicht meine Art, außerdem, wer ist schon gerne aufdringlich – nicht?« Und beide müssen sie lachen.
»Also, Regina Hackenberger, wir kommen!«, setzt der Metzger nach und geht seitlich des Wagens zur Beifahrertür, während Herr Friedmann das Rad neben sein eigenes auf die Ladefläche stellt. Dann steigen beide ein, und der Metzger hievt sich vergnüglich auf die weichen Sitze. Mit deutlich langsamerer Geschwindigkeit als am Vortag fährt Herr Friedmann die Straße entlang.
»Und, einen schönen Tag gehabt in der Kuranstalt?«
»Na ja, schön passt nicht wirklich!«
»Wieso?«
»Wissen Sie denn gar nicht, was passiert ist?«
Dann erzählt der Metzger vom tragischen Unglück des Herrn Ferdinand Anzböck. Keinen Kommentar ist dem
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