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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Frage, eine einladende, die wohlwollend ihre Hand ausstreckt. Der Metzger würde sich ganz schön freuen, könnte er in das berührte Herz seines Chauffeurs hineinschauen. Die tatsächlichen Aussichten sind nämlich weitaus weniger erquicklich: Herr Friedmann muss ja noch das Rad ausladen und öffnet zu diesem Zweck die Tür des Kofferraums. In seiner momentan vom Thema Tod sehr dominierten Situation fällt es dem Metzger beim Anblick der gestern noch sauberen und nun erdigen Schaufel und der gestern ebenfalls noch ziemlich sauberen und nun dunkelrot gefärbten Arbeitshandschuhe nämlich beim besten Willen etwas schwer, nicht auf blöde Ideen zu kommen.
    »Bis gleich!«, verabschiedet sich Herr Friedmann, schultert seinen Rucksack, drückt dem Metzger das Rad in die Hand und verschwindet im Haus.
    29
    S IE IST GEFAHREN . Lange haben sie offen geredet, ohne Vorbehalte. Sie hat gemeint: »Nicht in diesem Leben, nicht in diesem grausamen Leben!«, ihn zärtlich umarmt und sich auf ihren Weg gemacht. Verbinden wird sie auf ewig nur ihre Herkunft.
    Zwanzig Jahre ist es jetzt her. Vor zwanzig Jahren hat er die Hölle verlassen. Seit zwanzig Jahren ist bis auf sie niemand aus seiner Herkunftsfamilie auch nur einen Schritt auf ihn zugegangen. Jede Bewegung ging von ihm aus, bis er eines Tages selbst für diese kleinen Zeichen die Kraft verloren hatte. Danach war nichts mehr übrig geblieben, beinah so, als wäre er gestorben. Beinah, denn die Grabpflege hätten seine hinterbliebenen Angehörigen gewiss intensiver betrieben. Verloren hat er sich trotz dieses Bruchs nie gefühlt.
    Aufgegeben vielleicht, aber keineswegs verloren.
    Kann man überhaupt ein Verlorener sein, ohne aus freiem Entschluss zu den anderen gehört zu haben?
    Er hat weder zu ihnen, noch hat er ihnen gehört. Nichts spürte er deutlicher bei all dem, was er zu spüren bekam. Der Liebe Gottes sei er nicht würdig, wurde ihm gesagt. Seitdem sein kindlicher Verstand diese Dinge begreifen konnte, wusste er nur, dass er mit allen Gleichaltrigen eines nicht gemeinsam hatte: die Taufe, diese sogenannte Schwelle zwischen dem alten Sein des Menschen in Sünde und dem neuen Sein eines Lebens in Christus. Die einzige Erlösung des Menschen von der Urschuld der Erbsünde, die ab dem Zeitpunkt der Empfängnis schon im Mutterleib wirksam wird, in die jeder Mensch als Nachkomme des lasterhaften Adam hineingeboren wird, die den Menschen zum Bösen neigen und den Verstand Gottes nicht mehr erkennen lässt, diese Erlösung wurde ihm versagt. Sein Leben hatte aus Reue zu bestehen. Ohne Kompromisse. Auf Holzscheiten knien müssen, im Schuppen eingesperrt sein, den geknoteten Lederriemen als Lehrmeister erdulden, das waren noch die erträglichsten Methoden, wenn in Vertretung eines gerechten Gottes und einer fürsorglichen Maria Hand angelegt wurde. Widerrede wurde ihm genauso wenig gestattet wie dem Vieh. Das Vieh erfuhr mehr Zuwendung, vom Vieh lebten sie.
    Das Weib war zur Leibeigenschaft verdammt, dem Willen des eigenen Vaters oder des gnadenlosen Mannes zum Gehorsam verpflichtet. Das sei auch die Aufgabe der Frau, so die Haltung seiner Mutter, sich fügen. Dementsprechend hat sie alles getan, ihre Kinder genährt, gewickelt und ihnen später, bis sie es schließlich selbst konnten, die vom Bettnässen durchtränkten Laken gewechselt, sie pünktlich abgegeben und nie vergessen, sie wieder abzuholen, außer aus ihrem Leid. Sie hat alles getan, nur ihre Kinder nie an sich gedrückt, nie liebkost oder ihnen Geschichten erzählt, nie mit ihnen gespielt, sie getröstet oder in den Schlaf gesungen. Es war kalt um sie herum, eiskalt. Seine Mutter hat nur funktioniert, herzlos und blind gehorchend. Und selbst in diese Geringschätzung hinein gelang es ihr, ihm noch eine Spur mehr an Verachtung zukommen zu lassen.
    Er weiß bis heute nicht, warum.
    Sein Vater hat nicht existiert. Sogar dem Hund wurde mehr Beachtung geschenkt. Er aß, arbeitete, schwamm im Weiher zur warmen Jahreszeit, lief um den Weiher, wenn es kalt wurde. Er half weder seiner Frau und den verzweifelten Kindern, noch half er sich selbst. Gebraucht hätten sie ihn, wie einen Bissen Brot. Dann ist er weg, er, das älteste der vier Kinder, weg von diesem Ort der Verdammnis, und irgendwie war ihm, als seien sie alle froh darüber.
    Nur seine geliebte Schwester weinte. Er konnte sie nicht mehr beschützen, er musste sich selbst beschützen. Das bekam sie zu spüren, immer wieder. Erst viel später hatte sie die Kraft zu

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