Der Metzger geht fremd
wie's aussieht, ist nichts durchgezwickt, sondern wirklich nur das Benzin abgezapft. Ich muss jetzt schleunigst welches auftreiben gehen. Wir haben zwar eine Tankstelle im Ort, nur die hat sonntags geschlossen. Wahrscheinlich hockt der Besitzer im Wirtshaus. Ich bin gleich wieder da!«
Wenn sich ein Mann beim Gehen mit »Ich bin gleich wieder da!« verabschiedet, kann das bereits durchaus den finalen Gipfelpunkt seiner Problemartikulationsfähigkeit darstellen. Mit dem Kanister in der Hand verschwindet Sascha Friedmann zwischen zwei Häusern.
Grandios, denkt sich der Metzger. Irgendwie wird die ganze Angelegenheit immer verworrener. Ganz abgesehen davon könnte er sich ja auch wirklich nichts Schöneres vorstellen, als am Sonntag zur Mittagszeit, bei brütender Hitze, mutterseelenallein in einem Ortskern abgestellt zu werden, der in Wahrheit nur ein Kern ist ohne Ort. Eine Straße, die links und rechts alleeartig von einer Reihe sich ähnelnder Gebäude begrenzt wird. Für ein kurzes Stück rücken die beiden Fahrbahnen samt dazugehörigen Häuserzeilen auseinander, damit dazwischen ein breiter Grünstreifen, der sogenannte Marktplatz, und die Barockkirche samt Pfarrhaus hineinpassen. Ohne irgendwelche Bauwerke wäre da also nur eine begrünte Verkehrsinsel.
Am Ende dieser Insel steht Willibald Adrian Metzger etwas verloren in der prallen Sonne und sehnt sich nach jenem wohltemperierten Schatten, den der Innenraum eines geparkten dunkelblauen Fahrzeugs im Hochsommer nicht zu bieten hat. Was bleibt ihm also anderes übrig, als schweißnass den Zündschlüssel abzuziehen, den Wagen zu verschließen und den einzigen kühlen Platz anzusteuern, der sich in unmittelbarer Nähe gerade anbietet?
37
D IE K IRCHE IST LEER . Zumindest menschenleer. Niemand sitzt in den mit Namensschildern versehenen Bankreihen. Engel und Heilige, wenn auch verblasst, sind jedoch in Unmengen vorhanden. Auf drei prächtigen Deckenfresken, den beiden Seitenaltären, dem durch ein Marmorgeländer abgetrennten Hochaltar, der kleinen Kanzel und den unterschiedlichsten Gemälden scheinen sie miteinander ein recht passables Auskommen zu haben. Mit freundlichen Gesichtern, durchtrainierten Leibern und ehemals roten, nun zartrosa Backen verbreiten sie eine beinah angenehme Atmosphäre. Das Altarbild zeigt keinen jämmerlich am Kreuz zugrunde gehenden Christus, sondern eine wunderschöne Muttergottes mit strahlend lächelndem Jesuskindlein im Arm. Selbst die Statue des von Pfeilen durchbohrten, an einen Pfahl gebundenen heiligen Sebastian bringt einen unglaublichen Frieden zum Ausdruck, der natürlich beim Metzger nicht auf fruchtbaren Boden fällt. Ganz im Gegensatz zur pollakschen Miniaturausgabe in seiner Werkstatt fehlt nämlich diesem barocken Prachtkerl kein einziger Pfeil.
Mit hallenden Schritten marschiert der Metzger über den Marmorboden und atmet befreit die kühle Luft. Und obwohl er hundertprozentig davon überzeugt ist, dass Gott überall lieber ist als in prunkvollen Gebäuden, die irgendein wohlhabender Verein aufwendig und auf Kosten anderer hat errichten lassen, erweckt es hier in dieser Kirche den Anschein, als hätte der Himmel zumindest in Gestalt der beherzten Kunst von Malern und Bildhauern seine Handschrift hinterlassen.
Unterhalb der Kanzel nimmt der Metzger neben kursiven Namensschildern Platz. Wohltemperiert sitzt er zwischen der Familie Binder und der Familie Hammerschmied und besinnt sich der Ereignisse am bedrückenden Hirzinger-Hof, was zwangsläufig zu einem scharfkantig drückenden Gefühl in der rechten Hosentasche führt.
Beinah hätte er's vergessen.
Leicht ist es nicht, in der engen Bankreihe die beiden der Esstischlade entwendeten vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos herauszuziehen, die er dann nebeneinander auf die Ablage vor sich zu den Gebetsbüchlein legt. Auf der linken Abbildung sind zwei Mädchen und zwei junge Burschen zu sehen. Die Burschen müssen so um die zwanzig sein, die Mädchen zwischen dreizehn und neunzehn, denkt sich der Metzger, wobei ihn die ältere der beiden irgendwie an Luise Friedmann erinnert. Auf der Rückseite des Fotos steht in deutscher Kurrentschrift: » Sommer 1972«. Auf dem rechten Bild aus dem Frühjahr 1973 ist die jüngere der beiden Frauen abgebildet. Bilder aus dem Jahr 1972/73, beschriftet in deutscher Kurrentschrift, das muss schon von einer heute recht betagten Person gekennzeichnet worden sein.
Eine ebensolche betritt nun die Kirche. Trotz der Tatsache, dass bis auf eine
Weitere Kostenlose Bücher