Der Metzger geht fremd
das Mädel um die Hüften und zieht es vom Feldweg weg.
Für diese spontane Rettungsaktion bedankt sich Franziska Kaiser mit einem ohrenbetäubenden hohen C und einem Biss in Willibalds Hand. »Lass mich los!«, schreit sie.
Dann kommt der Wagen um die Kurve. Wütend springt der Fahrer auf den Feldweg, läuft auf den überrascht dreinblickenden Metzger zu, entreißt ihm das Mädchen und rempelt ihn heftig zur Seite. Es kommt zum dritten Fall des Willibald Adrian an diesem Wochenende.
»Ich bring dich um!« Und das hört der Metzger jetzt zum zweiten Mal an diesem Tag.
Wutentbrannt steht ein stämmiger Mann mit Hut, Vollbart und Arbeitsgewand vor seinem Traktor, am Arm die kleine Franzi, und brüllt: »Was willst du von meiner Tochter, du Schwein?«
Dem Metzger fällt ein Stein vom Herzen und die Anspannung der letzten Momente von den Schultern. Und wie er da das kleine Mädchen vor sich sieht, das schutzsuchend ihren Kopf auf die breiten Schultern ihres Vaters drückt, drückt ihn die Rührung.
»Das tut mir wirklich schrecklich leid, Herr Kaiser. Ich dachte, es kommt ein zu schnell fahrendes Auto, das die Franzi übersehen könnte!«
Und während beim Kaiser-Bauern sichtlich ein Gesinnungswandel stattfindet – immerhin weiß diese heruntergekommene Person seinen und den Namen seiner Tochter –, muss der Metzger in Gegenwart dieses vor ihm stehenden Bildes kindlichen Urvertrauens an die vom Schicksal heimgesuchte fünfzehnjährige Hirzinger Paula und das Jahr 1974 denken. Dazu braucht der Willibald den Hirzinger-Stammbaum gar nicht vor sich zu haben, den kennt er nach dem sorgfältigen Konstruieren seiner Zeichnung ohnedies auswendig:
Und dann macht er sich noch einmal die Chronologie der Ereignisse klar:
• Am 14. Jänner 1974 hat August-David Friedmann Luise Hirzinger geheiratet;
• 1974 wurde Xaver Friedmann geboren;
• 1974 ist die zweite Hirzinger-Tochter Paula verstorben oder verschwunden;
• 1974 ist Anna, Paulas Mutter, gestorben;
• auf dem im Wald gefundenen Ehering steht das Datum 1. April 1974.
Ein bisserl viel 1974 in Anbetracht der Schwere dieser Ereignisse. Dem Metzger drängt sich die Frage auf: Was für ein Mensch muss der grobe Bauer Hans Hirzinger sein, wenn seinetwegen schon drei Enkel, nämlich Xaver, Clara und nun auch Sascha, den Hof und die eigene Mutter Luise verlassen haben? Und was für ein Mensch war er im Jahr 1974 in seiner Rolle als Vater zweier Töchter -ein fürsorglicher?
Zeigen Großeltern nicht zumeist gegenüber ihren Enkeln genau jene Güte und Großherzigkeit, die sie gegenüber den eigenen Kindern nicht zu geben imstande waren? Was also hatte Hans Hirzinger seinen Töchtern zu geben, wenn er als Großvater seine eigenen Enkel vertreibt?
»Und warum kennen Sie meine Tochter beim Namen, und was machen Sie da überhaupt?«, hört er Herrn Kaiser mit deutlich beruhigter Stimme.
»Benedikt Friedmann hat mich hier aus dem Auto gestoßen, und Ihre Tochter ist kurz danach als entschlossene Mäusejägerin aus dem Maisfeld marschiert. Direkt vor meiner Nase!«
Damit löst sich alles in Wohlgefallen auf. Herr Kaiser erklärt, vorhin von einem viel zu schnell fahrenden, eindeutig zuzuordnenden Opel Kadett überholt worden zu sein.
»Ich bin hier, weil mir Franzi aufgetragen hat, sie am Beginn des Maisfelds abzusetzen und am Kaiserweg, so nennen wir den Feldweg hier, wieder abzuholen. Was soll man machen als liebender Vater?« Zum ersten Mal schaut er nun freundlich drein, der Kaiser-Bauer. »Und dass Sie der Benedikt Friedmann aus dem Auto gestoßen hat, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Der gerät ja ganz seinem Großvater nach. Wenn's am Hirzinger-Hof so weitergeht, wird der Hans sowieso bald mit seinem Benedikt allein dort hocken! Alleine hocken lassen wir Sie jetzt aber jedenfalls hier nicht. Sie kommen mit!«
»Wilbad Adina heißt er!«
»Willibald Adrian heiß ich, kleine Kaiserin! Willibald Adrian Metzger.«
»Sehr erfreut! Günther Kaiser.«
Dann klettert der Metzger mit klopfendem Herzen, von oben gesichert durch die schmutzige Hand einer grinsenden Göre, auf den Traktor.
»Links ist meine Seite, du musst drüben sitzen! Papa, vorsichtig fahren, der kann das nämlich noch nicht.«
Noch bevor sich der Metzger zur Gänze auf dem abgeflachten Kotflügel in die Metallumrandung der Sitzgelegenheit hineingequetscht hat, setzt sich die Zugmaschine in Bewegung und steuert auf die Bundesstraße zu.
Franzi Kaiser quietscht vor
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