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Der Metzger geht fremd

Der Metzger geht fremd

Titel: Der Metzger geht fremd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raab
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Dreimal ist sie davongelaufen und jedes Mal wieder selbstständig zurückgekehrt.
    Wo hätte sie auch hinsollen?
    In den täglichen Gebeten, in dem monotonen Ablauf des Tages und den Phasen allgemeinen Schweigens hat sie ihren Frieden gefunden. Und obwohl sie sich vom Himmel verlassen fühlte, wenn nicht sogar verdammt, obwohl sie jemand anderem auf ewig ihr Herz geschenkt hatte, konnte sie ihn zu sich lassen, den Sohn Gottes, dem hier alles mit ergebener Liebe zu Füßen gelegt wurde. Hier, in dieser Erdhöhle unter der Oberfläche der menschlichen Hast. Hier wurde sie zum Teil einer neuen Familie, während sie für die eigene nicht mehr existierte. Nur mit folgendem Grundsatz konnte sie sich zurechtfinden: »Ich bin eine Vollwaise, ein Findling vor den Toren der Hölle.«
    Im Jahr ihrer Abschiebung starb ihre Mutter. Die Todesmeldung wurde ihr lange Zeit später von Schwester Martha überbracht. Da wusste sie, irgendjemand hält indirekt Kontakt zu ihr. Luise, die im Gefängnis der Freiheit ums Überleben kämpfen musste und alle Last zu tragen hatte, meldete sich von da an halbjährlich bei Schwester Martha, heimlich und kurz angebunden.
    Der letzte Kontakt war das Zeichen für ihren Aufbruch.
    Schwester Martha erklärte ihr, August-David sei nach seinem Unfall erstmals längere Zeit allein und Luise nach einem schweren Nervenzusammenbruch am Ende ihrer Kräfte: »Geh nur, mein Kind, jetzt ist es Zeit!«
    Per Anhalter hat sie die Strecke hinter sich gebracht, ohne viele Worte. Sobald jemand mitbekam, dass sie kaum sprechen konnte, trat befangenes Schweigen ein. Im Umgang mit allem außerhalb der engstirnigen, kompromisslosen Normalität übertreffen die Behinderungen der Unversehrten die der Versehrten.
    Lange hat sie gewartet, doch er ist nicht gekommen. Er wird nie mehr kommen können. Sie war zu spät, um einen Atemzug zu spät. Es ist ein Atemzug, mit dem alles beginnt, und einer, mit dem alles endet. Dazwischen beachtet der Mensch seinen Atem nicht. Und doch sind es genau diese unbeachteten Kleinigkeiten, die das Große ausmachen.
    Ihr Herz fühlt sich leicht an, als würde ihr erst mit dem Verlust die zähe Last unerfüllter Liebe bewusst. Nun kann sich nichts mehr erfüllen. Der Finger fehlt ihr nicht. Der Ring, der als Zeichen ihrer Liebe an ihr haftete wie eine zweite Haut, diesen Ring hat sie dem Schicksal übergeben, mit reinigendem Schmerz. So wie sich selbst.
    Sie muss nun frei sein.
    Frei, um eines Tages auch ihn suchen zu gehen.
    47
    D EM M ETZGER IST MITTLERWEILE klar geworden, dass er beim Konstruieren des Stammbaums ziemlich ins Schwarze getroffen haben muss, ungewollt versteht sich, anders lassen sich seine Entführung und das abermalige Aufkreuzen des jüngsten Zöglings der Friedmann-Brut nicht erklären. Wobei er bei diesem Benedikt wohl ausgerechnet an jenen geraten ist, der in ortsansässigen Fachkreisen bereits als Nachfolger des alten Hirzinger Hans gehandelt wird.
    Was führt Benedikt Friedmann im Schilde?
    Er traut es sich ja nicht einmal vor sich selbst einzugestehen, der Metzger, aber diese sich auflösende Familie interessiert ihn inzwischen erheblich mehr als die Frage, wer die beiden Herren in der Kuranstalt auf dem Gewissen haben könnte. Das ist aber keineswegs mit einer versteckten emotionalen Abgebrühtheit des ansonsten feinfühligen Restaurators zu begründen, sondern mit seiner Berufung selbst. Wenn sich ein Möbelstück endgültig als Brennholz qualifiziert hat, ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Vorbei ist vorbei.
    Solange aber ein Funken Hoffnung auf Instandsetzung erhalten ist, geht der Metzger mit Akribie den Fragen nach, wann dieses Möbelstück wie und wo erstanden wurde beziehungsweise entstanden ist, was es schon für Standpunkte hinter sich gebracht, bei wem es welche seiner Ansichten preisgegeben und sich von welcher Seite gezeigt hat. Holz reagiert nämlich auf eine schleißige Einstellung, ein schlechtes Klima und eine schändliche Handhabung ähnlich sensibel wie die Bürger eines Landes, mit dem Unterschied, dass sich Holz entsprechend verzieht und die entsprechende Regierung nicht.
    Was ist also die Betrachtung der Beschaffenheit einer Familie anderes als die Suche nach diversen Eigenheiten und Schäden an einem Mobiliar? Und da dürfte das Leben am menschlichen Hirzinger-Hof-Inventar schon einige Schrammen und Risse hinterlassen haben, die wohl weitaus schwieriger zu kitten sind als jene, die der Metzger auf seiner Werkbank zu bearbeiten hat.
    Das Erste,

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