Der Metzger geht fremd
Vergnügen, der Kotflügel unterhalb des Metzgers quietscht vor Beklemmung, und die Reifen des gerade bremsenden Opel Kadett quietschen vor der Abzweigung zum Feldweg.
»Schau, Papa, das Potetenauto mit dem Ditotenflügel!«
»Also Franzi!« Günther Kaiser sind die Folgen seines väterlichen Sprachunterrichts sichtlich peinlich.
Und während Benedikt wieder Fahrt aufnimmt, allerdings nicht zum Hirzinger-Hof, und zum Wagenfenster herausbrüllt: »Ich krieg dich!«, was der Metzger jetzt natürlich gar nicht nachvollziehen kann, meint Franzi
Kaiser: »Was sind eigentlich Poteten, und warum ist der Flügel tot, Papa?«
Günther Kaiser meint nun ruhig und betont deutlich: »Proleten, Franzi! Proleten und Idioten! Ein Proletenauto mit Idiotenflügel. Was Idioten sind, weißt du ja schon, und was Proleten sind, erklär ich dir, wenn wir das nächste Mal beim Rohrbacher tanken.« Zum Metzger gewandt meint er: »Und Sie können verdammt froh sein, dass Sie der Benedikt aus dem Auto gestoßen hat. Vom Sascha mal abgesehen, muss man sich gewaltig in Acht nehmen vor dieser Hirzinger-Bagage!«
45
Die Hirzinger-Bagage – Teil 1
Sascha Friedmann steigt aufs Gas. Aus reiner Verzweiflung.
Warum zapft ihm sein Bruder Benedikt das Benzin ab, verfolgt ihn und entführt seinen harmlosen Beifahrer? Er versteht es nicht, trotz ihres brüderlichen Hasses.
Er muss den Metzger finden, unbedingt. Ganz so harmlos kann dieser sympathische Geselle nämlich auch nicht sein, wenn er sich damit abmüht, einen Stammbaum zu entwerfen, der ihn erstens gar nichts angeht und der zweitens zum Glück ohnedies nicht ganz korrekt ist. Kein Wunder!
Vor beinah zwei Wochen noch hätte er ihn selbst genauso falsch gezeichnet. Es hat sich jedoch in der Zwischenzeit sein Vater aus der Kuranstalt Sonnenhof gemeldet. Völlig überraschend.
Zufällig ist er zu diesem Zeitpunkt gerade bei seiner Mutter in der Küche gestanden. Nie hätte er erwartet, dass sein Vater seine Mutter anrufen würde, so distanziert, wie die beiden aneinander vorbeigelebt haben.
»Was?« Seine Mutter musste sich am Tisch abstützen. »Wer?«
Eine Zeit lang hat sie ihrem Mann mit blassem Gesicht noch zugehört, dann ist sie zu Boden gegangen. Was gibt es Schlimmeres, als wenn einem vor den eigenen Augen die Mutter zusammensackt? Seine Mutter, von der ihm in diesen rauen Verhältnissen, soweit es möglich war, ein bisschen Wärme entgegengebracht wurde.
Lange ist sie ohnmächtig am Holzboden liegen geblieben. Als sie wieder zu sich kam, war ihm klar: Etwas ist nun anders geworden nach diesem Anruf.
Immer wieder wurde sie von Heulkrämpfen geschüttelt. Weder ihr jüngster Sohn Benedikt noch ihr Vater Hans, denen der auffällig geschwächte Zustand von Luise ohnedies ziemlich gleichgültig zu sein schien, erfuhren später von dem Anruf. Zwei Tage später, draußen war es schon finster, saß sie wimmernd an die Rückwand des Hofes gelehnt. Lange hockte er schweigend daneben. Kein Wort war ihr zu entlocken.
Ab diesem Zeitpunkt war ihm klar, sein Vorhaben bedurfte einer Korrektur: Nicht nur er musste hier weg, auch seine Mutter. Er konnte sie unmöglich allein zurücklassen.
Und er musste seinen Vater zur Rede stellen, er musste ihn kennenlernen, den ewigen Schweiger.
Luise Friedmann musste sich hinlegen, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, nachdem ihr Sohn Sascha mit diesem Restaurator weggefahren war. Zu sehr fehlt es ihr an Kräften, an Lebenswillen, an klarer Sicht.
Seine Sporttasche hatte sie ihm wie ausgemacht gerichtet, zusätzlich ein wenig Geld dazugesteckt und eine Jause eingepackt. Ihre ganze Liebe kann sie ihm geben und doch all das nicht wiedergutmachen, was ihr in ihrer Erinnerung an Xaver und Clara heute noch das Herz zerreißt.
Die beiden hat sie verloren, für immer. Keines der Kinder hatte Schuld auf sich geladen, und doch sah sie damals in ihnen nur ihr eigenes verwirktes Leben. Wie grausam sie gewesen ist! Derart grobe Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht mit zukünftigen Taten korrigieren, niemals, durch keine irdische Lossprechung, durch kein Gebet, durch keine großzügige Spende, durch nichts.
Auch Sascha würde nicht wiederkommen, darüber ist sie sich im Klaren, aber er wird sie in seinem Herzen mitnehmen, egal wohin er geht, und allein das ist ein Trost.
Ihr bleibt die Zuflucht in den Schlaf.
Sie war zu schwach, um nach dem Telefonat ihres Vaters dem geflüsterten Gespräch zu folgen, das er auf dem Gang mit Benedikt
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