Der Metzger geht fremd
führte. Wo auch immer ihr jüngster Sohn mit aufheulendem Motor hinwollte, sie hätte es nicht ändern können.
Benedikt Friedmann steigt aufs Gas. Anders als vorhin, als er vom Hirzinger-Hof wegmusste, und vor allem mit einem anderen Ziel.
Dass dieser Metzger beim Kaiser auf dem Traktor sitzt, ist zwar Pech, im Grunde tut es aber nichts zur Sache. Ebenso bedeutungslos ist die Frage, wo diese »Beste Frau für Willibald« ihre Informationen herhat oder wie dieser Willibald den glücklicherweise fehlerhaften Stammbaum verfassen konnte.
Wichtig ist einzig, dass er selbst, Benedikt Friedmann, an diese Informationen geraten ist, als wäre er vom Herrgott in letzter Minute geleitet worden. Dem Himmel sei Dank, denn beinahe hätte er nicht geglaubt, was da in dem Brief seines Vaters stand, beinah hätte er einen schwerwiegenden Fehler begangen. Er war sich sicher, dass Sascha das Schreiben selbst verfasst hatte, diese Lüge, nur um den Tod seines Vaters dem verschollenen ältesten Bruder in die Schuhe zu schieben und um böses Blut zu machen. Sascha, dieses schwache Muttersöhnchen, der für seinen eignen Vater kein gutes Wort übrig hatte, der die ganze letzte Woche weg gewesen ist und wahrscheinlich nie mehr zurückkommen und seine Verantwortung auf dem Hof erfüllen wird.
Seit er jedoch diese SMS gelesen hat, weiß er, Sascha ist unschuldig, und es muss ihn dort tatsächlich geben, seinen ältesten Bruder. Fünf Jahre war er alt und zehn Jahre jünger als Xaver, der sich mit fünfzehn aus dem Staub gemacht, der alle im Stich gelassen hat, aus Hass und reinem Egoismus.
Allein ist er jetzt auf dem Hof, er, Benedikt Friedmann. Alle Last liegt auf ihm, die ganze Arbeit. Sein verweichlichter Bruder arbeitet mehr außerhalb des Hofes als dort, wo er benötigt wird, seine Mutter führt halbherzig den Haushalt, sein Großvater ist alt und ohne Kraft, und sein bedeutungsloser Vater, der wenigstens angepackt hat, ist tot.
Seit er nun weiß, dass sein Vater den verlorenen Sohn in der Kuranstalt wiedergesehen haben könnte, weiß er auch, was zu tun ist. Dafür braucht er weder die Erlaubnis seines Großvaters noch ein Beichtgespräch mit Pfarrer Bichler.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche fährt er diese Strecke. Die knappe Stunde Fahrzeit wird ihm guttun. Er muss sich darüber klar werden, wie er es anlegt. Er muss innerlich zur Ruhe kommen.
Hans Hirzinger telefoniert. Er weiß nicht, was da los ist, wo dieser Störenfried vorhin das Bild mit seiner Tochter Paula herhatte und warum es Maria Zellmoser zu sehen bekam. Gerade Maria Zellmoser, dieses alte Tratschweib.
Pfarrer Bichler klang besorgt und meinte, es sei nicht gut, wenn die alten Wunden aufgerissen würden.
Seit diesem Tag vor fünfunddreißig Jahren hat sich Hans Hirzinger in seinem Haus jedes Gespräch über dieses Thema verboten. Für ihn ist Paula gestorben, als Strafe für ihre sündhafte Tat, für ihre ehranrüchige Lüge. Egal, wo diese Bilder jetzt sind, er muss sie zurückhaben.
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N ICHTS TUT IHR MEHR WEH . Der gelegentliche Schmerz der verbundenen Fingerwunde ist bedeutungslos.
»Alles wird gut!«, hatten sie ihr damals, nach vollbrachter Tat, erklärt. Es war nicht gelogen, denn sie wusste, egal, was noch passieren würde, es könnte nie wieder so schlimm sein.
Sie hat recht behalten.
Schlimmer als die unvorstellbaren körperlichen Schmerzen, schlimmer als die Entwurzelung und der schreckliche Verlust war damals einzig die Verweigerung ihrer Angehörigen, allen voran ihres leiblichen Vaters, ihrer verzweifelten Schilderung Glauben zu schenken.
Wer glaubt schon einem Kind?
Vor allem, wenn die Antithese aus dem Mund eines Stellvertreters Gottes verkündet wird.
Um die Wahrheit zu sagen, dafür war sie offenbar zu jung, für alles andere ist sie nicht zu jung gewesen, nicht, um diese Schmach zu erdulden und diese Qualen auf sich zu nehmen, die ein Erwachsener kaum hätte ertragen können, nicht, um den Boden unter den Füßen zu verlieren, und nicht, um ihr Leben zu lassen für den Fortbestand einer Lüge.
»Liebe ist alles, was uns am Leben erhält! Geh nur, mein Kind, jetzt ist es Zeit!« Mit diesen Worten hat Schwester Martha sie fortgeschickt, nur damit sie ihn wiedersehen kann, nach so vielen Jahren.
Bei Martha hatte man sie einst abgegeben, wund an Leib und Seele, durch Martha ist sie nicht nur am Leben geblieben, sondern hat wieder ins Leben gefunden. Was sich anfangs wie ein Gefängnis anfühlte, wurde ihr irgendwann zur Heimat.
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