Der Metzger kommt ins Paradies: Kriminalroman (German Edition)
ihre Schulter und blickt mit zwei kreuzförmig von weißen Pflasterstreifen verklebten Augen ins Nichts. Ein Weiß, das auf der beinah ins Schwarze gehenden Gesichtsfarbe umso deutlicher zur Geltung kommt.
Bleiern, die Hände instinktiv auf den kalten Rücken des Mannes gelegt, als wollte sie ihm rettenden Halt geben, bleibt Dolly regungslos stehen und starrt auf die schlaff nach unten hängenden Extremitäten. Dann erreicht die eben stattfindende Wirklichkeit auch ihr Bewusstsein. Ruckartig löst sie die Umklammerung. In Zeitlupentempo rutscht der leblose Körper zur Seite und fällt dumpf zu Boden.
Entsetzt blickt Dolly auf den Leichnam, die verklebten Augen, auf die am Rande der Pflasterstreifen durchschimmernden leeren Augenhöhlen, auf die große, vom linken Ohr abwärts bis zum Kinn führende Narbe. Eine drückende Übelkeit erfasst sie, ein dumpfer Schmerz.
»Pepe!«, flüstert sie. Unzählige Gedanken schießen ihr durch den Kopf, dann ergreift sie die Initiative. Geistesgegenwärtig kippt sie den zum Glück leichtgewichtigen Plastikschrank vor, lässt ihn wie einen Sarg auf den Leichnam sinken, geleitet Jürgen Schmidts aus dem Zelt, verständigt per Telefon die Hotelleitung und schickt ein Dankgebet zum Himmel. Den Kindern ist dieser grauenhafte Anblick erspart geblieben – ebenso wie allen anderen. Hier kommt der Erholungsbedürftige ja auch nicht her, um das überirdische Paradies zu finden, sondern das irdische Paradies zu suchen. So möge es auch bleiben.
Blitzschnell, als ginge es um die Entleerung einer Mülltonne, wird wenig später unter Aufsicht der Polizei der Leichnam beseitigt, und eines steht fest: Vor diesem schwarzen Mann muss sich keiner mehr fürchten.
Coco und das Gitterbett
»Tinoooooo!«, dröhnt es verzweifelt durch die Liegestuhlreihen, da heben sogar Rolfis Eltern interessiert den Schädel. Hier passiert also so einiges, muss sich der Metzger mittlerweile eingestehen. Gerade erst wurde über Lautsprecher bekanntgegeben, der Kiddyclub müsse vorübergehend geschlossen werden, die Kinder wären heute also im Speisesaal abzuholen, was Rolfs Mutter zu einem verächtlichen Lächeln in Richtung des blau-weiß karierten, sprechenden Bikinis veranlasste – und nun das.
»Tinoooooo!«, erschallt es erneut.
Voll Sorge ist der Gesichtsausdruck der etwa 60-jährigen, knackig braunen, allein von der Idee eines Bikinis und dem Hauch eines Seidentuches verhüllten Blondine, und jeder hier, kaum hat er sich auch nur ein einziges Mal den Freuden der inkludierten Vollverpflegung hingegeben, weiß, um wen es sich bei diesem so verzweifelt gesuchten Tino handelt. Immerhin sitzt Tino, ob die anderen Gäste nun wollen oder nicht, bei jeder Mahlzeit mit Frau Eva-Carola Würtmann bei Tisch und lässt sich Oliven auf die Zunge legen. Und ja, in Anbetracht der Dominanz der beiden ist bei dem einen oder andern Tischnachbarn gewiss schon der Gedanke »Andere Länder, andere Sitten« kein ungedachter geblieben. Andernorts würde der liebe Tino nämlich maximal gekocht, gedünstet oder gebraten den Teller zu Gesicht bekommen. So aber durfte er in sein gepolstertes Täschchen hüpfen und die Fahrt in dieses Paradies antreten, mit Frauchen und leerem Wanst. Ein Döschen Diätfutter vor Reisebeginn wäre nämlich für so einen kleinen, dank Überzüchtung hochsensiblen Hundemagen eine nicht minder haarige Angelegenheit wie der ganze Pekinese höchstpersönlich.
Folglich ist der stets auf Frau Würtmanns Schoß sitzende und sich nach jedem Bissen dankbar durchschüttelnde Vierbeiner nicht unbedingt der beliebteste Tischgeselle, da nützt ihm auch sein, wohl als entzückend gedachtes, mittels eines rosa-weiß getupften Schleifchens auf seinem Haupte emporgerichtetes Palmenzöpfchen nichts.
Beim heutigen Mittagstisch, so viel also scheint festzustehen, muss sich hier keiner ein Härchen aus dem Rachen ziehen, denn Tino ist abgängig. Entsprechend erleichtert rührt in diesem Liegestuhlsektor in Anbetracht der vorbeilaufenden personifizierten Sorge niemand auch nur einen Finger.
Sogar dem an sich feinfühligen Metzger, der dank seiner Danjela selbst zur Gruppe der Hundebesitzer zählt, geht in seinem aktuellen Gram maximal die penetrant blumige Duftwolke der vorbeihuschenden Frau Würtmann zu Gemüte. Rose, Jasmin, Mimose und ein paar Schweißdrüsen lassen da nicht nur in seinem Geruchssinn den Gedanken nach Vanille, sprich seiner Herzdame, aufflackern. Überraschung hin oder her, eines steht für den
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