Der Metzger kommt ins Paradies: Kriminalroman (German Edition)
Einschlag, und diesmal wurde sie nicht um Stillschweigen gebeten, ganz im Gegenteil:
Dolores Poppe, geborene Würtmann, ist verzweifelt. Nichts wünscht sich ihre Mutter mehr als ein Enkelkind. Und jetzt? Jetzt muss gerade sie ihr die Hiobsbotschaft überbringen: Der als Ersatz angeschaffte Schoßhund ist tot. Tino, diese kleine Ratte, dieser verwöhnte Gabelbissen und Mitgrund, warum Dolores froh ist, die Frau Mama nur zu allen heiligen Zeiten sehen zu müssen, wurde also genauso im Sand begraben wie ihr Wunsch nach eigenen Kindern.
Ja, heilige Zeiten, und das sind im Hause Würtmann nicht die Weihnachtsfeiertage. Ein Christbaum oder eine Krippe kommt ihrer wieder den Mädchennamen pflegenden Mutter seit der Scheidung von Ehemann Nummer 1, dem evangelischen Pastor und Dollys Vater Hubert Poppe, nicht mehr ins Haus, genauer gesagt in die Wohnung. 56 Quadratmeter misst der gelegentlich von Männern frequentierte Damenhaushalt. Groß genug für eine alleinerziehende Mutter, zu klein für eine Mutter und ihre erwachsen gewordene Tochter. Kein Wunder also, dass Dolores, kaum großjährig, die Lehre als Kosmetikerin schmiss und im wahrsten Sinn des Wortes das Weite suchte, denn die Männerbesuche galten nicht ihr. Seither tingelt sie als Kellnerin, Animateurin, Reiseführerin oder Bardame durchs Leben.
Und weil nun die heiligen Zeiten für Eva-Carola Würtmann stets das Wochenende beziehungsweise der wohlverdiente Urlaub waren, und seit neuestem die Pensionstage, sprich, und das macht Dolly Poppe wirklich Sorge, immer sind, kann weit weg gar nicht weit genug sein. Ein Alptraum ist so was. Da wird das Töchterchen extra Vagabundin, um die werte Frau Mama nur noch in erträglichen Happen genießen zu müssen, und dann pilgert die einst die Filiale einer Solariumkette führende Mutter dem eigen Fleisch und Blut und natürlich der Sonne hinterher wie ein Schwarm Schmeißfliegen einer mobilen WC-Anlage.
Nur, was hat Dolly auch erwartet, dass von heute auf morgen alles ganz anders aussieht? Sieht ja Frau Würtmann in gewisser Weise auch nicht wirklich anders aus als das von ihr geborene Fräulein Poppe. Derartige Kindereien betreiben Freundinnen im Teenageralter, möchte man meinen, Dolly allerdings wird bis heute eines Besseren belehrt. Hat sie einen neuen Haarschnitt, hat ihn die Mutter innerhalb einer Woche unter Garantie auch, hat Dolores neue Schuhe, gibt es kurz danach das Paar zweimal in der Familie, hat sie eine Jahreskarte in einem Fitnesscenter, steht spätestens in der zweiten Pilates-Einheit ein ihr seit Kindheit vertrautes Gesicht eine Reihe weiter hinten, und ja, Dolly würde wohl zweimal überlegen, der werten Frau Mama eine mögliche große Liebe vorzustellen, man weiß ja nie.
»Du bist eben meine beste Freundin«, ist für derartige Attentate auf die Privatsphäre stets die Erklärung.
»Und die einzige bin ich auch«, die Antwort.
Eines aber hat ihr Madame Würtmann bis heute nicht nachgemacht: Sechs Jahre war Dolly damals gerade alt geworden, ihr Herr Papa bereits seit fünf Monaten weg, dafür etwas anderes da, ganz plötzlich: ein kaum loszuwerdender Harndrang, ein unbändiger Durst, nächtliche Wadenkrämpfe, eine zunehmende Appetitlosig-, Müdig-, Kraftlosigkeit. Und weil das eben weder auf der mütterlichen Wunschliste stand noch wirklich erquickend zum Mitansehen war, ist sie wenigstens recht rasch mit ihrer kleinen Tochter zum Arzt gelaufen, die durchaus besorgte Frau Würtmann. Und weil das tatsächlich auch ein guter Arzt war, bekam Dolly Poppe mit ihren sechs Jahren zum druckfrischen Schülerausweis gleich einen zweiten dazu, den Diabetiker-Pass: Typ 1. Ein Dokument, das für den Rest des Lebens alles verändert, auch den Typ Mensch, den es in der von nun an neu zu definierenden Hülle namens Körper gefangen hält. Ja, gefangen. Dolly konnte aber noch nichts definieren mit ihren sechs Jahren, konnte gerade einmal »Dolores« schreiben mit verwackelten Großbuchstaben und leider nicht: »Papa, wann kommst du wieder nach Hause?«
Geblieben sind ihr Mutter Würtmann und die Spritzen. Mit sieben Jahren beherrschte Dolly das Prozedere des Blutzuckermessens, das selbständige Durchführen der täglichen Insulintherapie derart gut, dass ihre Mutter eines Tages aufhörte zu fragen: »Hast du schon gespritzt? Tut es weh? Ist alles in Ordnung?«
Und gut war das, denn erstens lag ihre einzige Chance, ein normales Leben zu führen, darin, sich selbst samt ihrem Typ 1 als normal zu betrachten, und
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