Der Metzger sieht rot
Leben lässt ihn da nicht hocken, sondern stürmt auf ihn zu wie ein Sturzbach, angekündigt durch ein neuerliches Läuten.
Petar Wollnar, schweigsamer Hausmeister dieses Gebäudes und wahrscheinlich Willibalds einziger echter Freund, hofft auf ein Öffnen der Tür. Er hofft darauf, weil ihn sein gründliches Reinigungsbedürfnis gerade wischenderweise durchs Stiegenhaus geschickt hat und es diesem Putzwahn zu verdanken ist, dass er genau in jenem Moment zufällig vor Willibalds Tür für Sauberkeit sorgen musste, als der Pospischill mit den Worten „Ruf an, wenn du mich brauchst, du was wissen willst, jederzeit!“ die Wohnung verlassen hat. So verlassen, dass der Wollnar durch die Eingangstür einen Willibald sehen konnte, so einen Willibald hat er in all den Jahren noch nie zu Gesicht bekommen. Richtig erschrocken hat er sich, der Petar Wollnar, und das will was heißen bei seinem phlegmatischen Gemüt. Nun ist es so, dass stille, treue Freunde, ohne zu fordern und zu berechnen, ohne Zwang und Eigennützigkeit, so rar sind wie Sternschnuppen im Moment eines Heiratsantrages. Mit dem Petar Wollnar hat der Willibald allerdings schon eine dermaßen große Portion Glück abbekommen, da braucht er bei einem Heiratsantrag den Kopf erst gar nicht zu heben.
Und weil halt solche Freunde die letzten Rettungsanker in größter Not sind, kann es schon passieren, dass diesen, bei nahe gelegenem Wohnsitz, ein Reserveschlüssel ausgehändigt wird. Man kann ja nie wissen. Viel näher als im Erdgeschoß desselben Hauses geht fast nicht.
Logisch, dass der Wollnar in seinem Küchenkasterl, das dürfte jetzt die Djurkovic gar nicht wissen, den Drittschlüssel, eigentlich den heimlichen Zweitschlüssel, vom Metzger liegen hat.
Nachdem also der Pospischill aus dem Stiegenhaus draußen war, ist der Wollnar zur Eingangstür der im letzten Stock liegenden Metzger-Mansardenwohnung und hat gehorcht – kein Mucks.
Dann läutet er.
Wie dann allerdings selbst nach dem „Hallo, ich bin’s – Wollnar“, einer der äußerst seltenen Lautäußerungen des schweigsamen Hausmeisters, noch immer kein Mucks zu hören ist, wechselt der Wollnar umgehend ins Erdgeschoß, so schnell hat er garantiert noch nie die paar Stockwerke abwärts hinter sich gebracht. Wie zu Kindestagen von süßer Gier getrieben, wenn während der Fastenzeit die Eltern nicht zuhause waren, reißt er sein Küchenkasterl auf und steht samt Schlüssel so schnell wieder vor Willibalds Eingangstür, so schnell hat er garantiert noch nie die paar Stockwerke aufwärts zurückgelegt, was sich als weitaus anstrengender als bergab herausstellt. Denn bei der Pause, die der Wollnar nun nach Luft hechelnd mit einer Hand an der Wand abgestützt braucht, bevor er endlich schwindelfrei Willibalds Wohnung öffnen kann, hätte er durchaus gemütlich die Stiegen hinaufspazieren können.
Der Metzger sitzt auf dem Vorzimmerboden, umgeben von seltsamen weißen Kugerln, und starrt tranceartig zur Wand, während eine Hand einen Schlüssel umklammert und die andere mechanisch die Kügelchen einzeln in ein kleines, auf dem Teppich stehendes Glasfläschchen einsammelt. Petar Wollnar lebt nach dem Motto, alles was ich hab im Leben, ist Zeit, also setzt er sich erst einmal neben den Willibald auf den Teppich und schweigt. Er schweigt so lange, nur noch ganz wenige der weißen Perlen liegen vereinzelt um den Metzger herum, bis dieser ungefragt „Danjela“ herausflüstert.
Jetzt ist es zwischen den beiden so Usus, dass der Metzger als Jahresnetzkartenbesitzer dem Wollnar als Pritschenwagenbesitzer nur ein Ziel zu nennen braucht, und der Petar steigt augenblicklich in seinen Wagen, da bleibt sogar der mit Putzmittel gefüllte Kübel verwaist im Stiegenhaus zurück. Nicht umsonst versteht sich, der eine verdient ein kleines Taschengeld, der andere liefert seine Möbel aus, so läuft das, normalerweise.
Natürlich liefert der Wollnar auch restaurierungsbedürftige Herzen, gepeinigte Seelen und selbstverständlich traumatisierte Gemüter, wenn diese einem Freund gehören, kostenlos, versteht sich. Und als Freunde hat er nur den Pritschenwagen, den Fernseher und den Willibald, wobei nur Letzterer in Frage kommt, wenn es um Herzen, Seelen und Gemüter geht. Kein Wunder also, dass Petar Wollnar geradezu mütterliche Instinkte für den Willibald Adrian Metzger entwickelt hat, denn das Austeilen einer menschlichen Zuwendung unterscheidet sich als existenzielles Grundbedürfnis keineswegs vom Erhalten
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