Der mieseste aller Krieger - Roman
dass du allein das letzte Wort in dieser Geschichte haben wirst. Die Aufgabe von uns Toten ist es hingegen, immer wieder aufzuwachen im Rhythmus der Trommeln und Trompeten, und – was bleibt uns sonst – mitten auf dieser verlassenen Landstraße zu tanzen, die sich im Unendlichen verliert. Meine Stimme ist nur ein Hauch, der immer schwächer wird in deinen Ohren, Benito. Jedes Mal, wenn ich deinen erzählerischen Impuls spüre, steigen die Erinnerungen auf wie die Toten aus der kargen Erde. Deshalb bleibt mir nichts weiter, als dir Glück zu wünschen, mein geliebter Enkel. Deine Zukunft wird immer eine Unbekannte sein, niemand kann vorhersagen, was die Welt, in die du dich nun begibst, aus dir machen wird.
Jetzt, da ein neuer Tag beginnt, überquere ich die Eisenbahnlinie. Ich lasse den Bahnhof hinter mir. Einige Hunde springen an mir hoch, wollen mir das Gesicht ablecken, doch es gelingt ihnen nicht. Sicher habe ich zu viel Sonne abbekommen, denn plötzlich bin ich eingeschlafen, tief und fest. Ich laufe weiter, um mir die Müdigkeit zu vertreiben, die gar nichts mehr wiegt, und erkenne inmitten des Wirbelwinds, der auf mich zukommt, den blitzenden Revolver meines Freundes, den Glockenwecker, den Sattellederbeutel und vieles andere, das im Herzen der wirbelnden Staubwolke kreist. Nun verschwimmt alles, alles, mit Ausnahme der Bilder, die Jahre später wieder auftauchen sollten wie die Zeitungsausschnitte aus dem Atacameño, Bilder, die der Wirbelwind mitreißt. Der Wind pfeift wie wild durch die trockenen Zweige, die das Meer anschwemmt, das Lachen von Flor und Petronila geht unter im Rauschen der Brandung, der Duft nach frischen Wiesenblumen vermengt sich mit dem salzigen Geruch des Ozeans. Ehe meine Füße im Polster aus Sand und Staub versinken, schlüpfe ich rasch in den Windstrudel, bevor er sich auflöst.
Informationen zum Buch
Wahrheit, wo Erinnern nicht möglich ist –
Auf der Suche nach Inspiration für seinen neuen Roman stößt der junge Schriftsteller Benito in einer alten Zeitung auf die Notiz eines Mordes, in den offenbar sein Großvater Samu verwickelt war, den er nie kennengelernt hat. Und doch vernimmt Benito plötzlich Samus Stimme, die ihm eine große Generationensaga ins Herz diktiert: Es ist die bewegte Geschichte seiner Familie in der Kleinstadt Paitanás, am Rande der Atacamawüste im Norden Chiles, die vier dramatische Jahrzehnte umspannt. Wehmütig und zärtlich blickt Samu auf die Vergangenheit zurück und erweckt Gestalten wie den korrupten Dorfpfarrer, der mit dem Freudenmädchen Trinidad unter einer Decke steckt, oder die wilde Lorenzona, die durch die Wüste reitet, wieder zum Leben. Und er führt Benito zu dem Geheimnis seiner Herkunft, das eng mit den Grausamkeiten der chilenischen Geschichte zusammenhängt.
Informationen zum Autor/zur Übersetzerin
Rodrigo Díaz Cortez wurde 1977 in Santiago de Chile geboren. Er hat bislang einen Erzählband und die Romane Tridente de plata (Mario-Vargas-Llosa-Preis der Universität Murcia) und Poeta bajo (nominiert für zwei weitere Literaturpreise) veröffentlicht. Zurzeit arbeitet er als Taxifahrer in Barcelona, leitet eine Schreibwerkstatt und ist Mitarbeiter einer Kulturzeitschrift.
Petra Strien , promovierte Romanistin, lebt als Übersetzerin von Belletristik und Lyrik in Köln. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Lyrik spanischer und lateinamerikanischer Autoren übersetzt (u.a. Laura Esquivel, Angeles Mastretta, Bioy Casares, Lugones, Rosario Castellanos, Enrique Vila-Matas, Juan Gelman, José Angel Valente).
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