Der Milliardaer und die Braut
vergangenen Jahre verbrachte sie sehr viel Zeit in Galerien und Ausstellungen. Sie studierte die alten Meister auf zahllosen DVDs, aber sie fühlte sich der Kunstwelt dennoch nicht zugehörig. Eher wie ein neugieriges Kind, das sich zwischen die begabten Erwachsenen drängelte und unbedingt mitmachen wollte. Sie besaß ja nicht einmal ein ordentliches Atelier.
Gedankenverloren sah sie in den Garten hinaus, wo sich die Sonnenstrahlen auf der glitzernden Oberfläche des Sees brachen. Schon gestern war ihr Blick immer wieder dorthin gewandert, und sie hätte liebend gern die Feierlichkeiten abgebrochen, um ihre Malsachen herauszuholen. Ständig hatte sie das Gefühl, hervorragende Motive oder Lichtverhältnisse zu verpassen. Außerdem spukte in ihrem Kopf die Idee herum, eines der oberen Zimmer zu einem Malatelier umzubauen, damit sie sich im kommenden Jahr mit etwas beschäftigen konnte.
Nach einer ausgiebigen Dusche stromerte Jade durch die Räume der Villa und bewunderte die antiken Möbel und Kunstwerke. Sie begegnete niemandem. Falls sich Personal im Gebäude befand, hielten sich die Personen geschickt im Hintergrund.
Im zweiten Stock entdeckte sie ein Kinderzimmer, das offenbar mehrere Jahrzehnte lang unberührt geblieben war. Die Kleider der Spielzeugpuppen waren vergilbt, und überall hatte sich eine dicke Staubschicht abgesetzt. Hier hatte vor über dreißig Jahren die kleine Chiara geschlafen, in genau diesem weißen Holzbettchen, bis ihr Bruder Giorgio eines Morgens hereinkam und seine kleine Schwester leblos vorfand.
Jade fühlte, wie sich bittere Trauer schwer auf ihre Schultern legte. Diese düstere Empfindung schien den ganzen Raum auszufüllen. Es erinnerte Jade an den Augenblick, als man ihr sagte, dass ihre Mutter niemals mehr nach Hause kommen würde. Immer wieder war Jade in das Zimmer ihrer Mama gelaufen, nur um nachzusehen, ob sich nicht vielleicht doch alle geirrt hatten.
Es roch nach vertrautem Parfum, und auf dem Schminktisch lag der Lippenstift ihrer Mutter. War es denn so unwahrscheinlich, dass sie zurückkam und sich die Lippen nachzog, wie sie es so oft tat? Jade begriff nicht, warum es kein Zurück mehr gab. Ihre Mutter konnte doch nicht tot sein, vielleicht wartete sie ja nur auf den richtigen Augenblick, um zurückzukehren? Es dauerte Jahre, bis Jade ihr Schicksal endlich akzeptierte und die Hoffnung schließlich aufgab.
Mit heißen Tränen in den Augen ging sie zum Kinderbettchen und fuhr mit einer Hand über die bestickte rosaweiße Überdecke. Winzige Rosenknospen zierten die Spitzenränder, und die Ecken waren mit kleinen Schleifchen verziert. Jade fragte sich, wie Chiara wohl heute ausgesehen hätte, wenn sie nicht so früh gestorben wäre.
Sicherlich wäre sie bereits verheiratet und hätte möglicherweise schon ein oder zwei eigene Kinder gehabt. Und sie hätte ein fantastisches Verhältnis zu ihren Brüdern und deren Familien. Wäre sie auch so freundlich zu Jade gewesen wie die anderen?
„Was machst du hier?“
Nics raue Stimme erschreckte Jade, und sie fuhr ruckartig herum. „Ich habe mich nur ein wenig umgesehen“, stammelte sie und wurde rot.
Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb am Fenster hängen. „Dieses Zimmer muss ausgeräumt und renoviert werden. Das sage ich meiner Mutter schon seit Jahren.“
„Wolltest du deshalb hier heiraten?“, fragte Jade. „Damit sie sich endlich ihrer Trauer stellt?“
„Einunddreißig Jahre sind eine sehr lange Zeit.“ Traurig betrachtete er einen weichen Teddybären, der auf einer Kommode saß. „Meine Mutter hat sich nie richtig von ihrem Verlust erholt. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Eltern dürfen ihre Kinder einfach nicht überleben, das ist nicht der natürliche Lauf der Dinge. Daher kann ich mir auch vorstellen, was dein Vater durchgemacht haben muss. Aber ich fand, dass man irgendwann lernen muss weiterzuleben. Diese Villa war früher unser Zuhause in den Ferien. Natürlich bin ich zu jung, um mich daran erinnern zu können, aber vor allem Giorgio und Luca haben jeden Sommer hier verbracht. Es schien Verschwendung zu sein, das Haus nicht mehr für sich zu nutzen.“
„Warum wurde es nicht verkauft?“
„Weil es sich schon seit mehreren Generationen im Besitz unserer Familie befindet. Als Giorgio und Maya sich scheiden lassen wollten, verlangte Maya die Villa als Abfindung, aber Giorgio weigerte sich standhaft. Niemand von uns wollte dieses Fleckchen Erde aufgeben, unter keinen
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