Der Ministerpräsident - ein Roman
äußerte: Genau! So ist es! Oder indem ich mich über einzelne Vermerke echauffierte: Wer hat ihn dazu ermächtigt? Das ist sehr dumm. Das geht ihn gar nichts an! Derart. Und März schien zufrieden damit. Das sei wieder mein früherer Ton. Der alte Urspring. Und er reichte mir gesundheitspolitische Vorlagen, die ich lesen sollte, aber nicht verstand. Für die Gesundheit und gegen Krankheiten – Derartiges reimte ich mir zusammen. Und ich erinnerte mich, dass meine Schwester als junges Mädchen oft krank gewesen war, und ich erzählte das März, der davon nichts hören wollte. Ich sagte ihm, dass es kaum eine Krankheit gab, die nicht mit meiner Schwester zusammen in einem Bett gelegen hatte. Bekam sie von einem Arzt ein neues Medikament, dann war ihr das, als bekäme sie ein neues Fahrrad. Sie nahm Tabletten nicht für die Dauer einer Krankheit, sondern für immer. Krankheiten und die dazugehörenden Tabletten dauerten bei ihr Jahre. Jahrelange Liaisons. Nie hätte sie sich von einem Medikament einfach getrennt … Doch März meinte, das sei irrelevant, viel zu persönlich, und ich entgegnete, dass ich mich endlich wieder an irgendetwas erinnern wolle, und sei es nur an die Krankheiten meiner Schwester, an ihren strahlenden Gesichtsausdruck, wenn sie ein neues Medikament verschrieben bekam.
So wie auch Hannah, sobald sie zu mir kam, Erinnerungen wachrief. Sie saß mit nackten, aufgestützten Armen vor mir – und rief Erinnerungen wach. Erinnerungen an Erinnerungen … Zum Beispiel Erinnerungen an meine Schulzeit. Hätte sie gesagt: Ich will zu meinem Mann, dann hätte ich geantwortet: Ja, gerne, liebend gerne. Hier bin ich.
Doch sie sagte das nicht. Sie sagte: Dass wir noch die Aufzeichnung für die Rede des Sonderparteitags am 18 . Mai vorbereiten müssten. März hatte sich nun endgültig gegen die Jungfernfahrt des Bodenseeraddampfers und für den Sonderparteitag in Hechingen entschieden. Dort sollte ich meine erste Rede halten. Die Rede sollte einem Haus gleichen, mit Fundamenten, die wir bereits jetzt legen würden. Hannah bereitete das Aufnahmegerät vor: Sie wollte einzelne Wörter von mir, die ich ins Mikrophon sprechen sollte. Zuerst einige Partikeln. Das sind Fügewörter, erklärte sie mir. Wörter, die sich fügen und die sich nicht verändern, die man leicht verschieben kann: an den Anfang eines Satzes, in die Mitte eines Satzes oder an das Ende eines Satzes. Je nachdem. Wie man es gerade braucht. An erster Stelle die Modalpartikeln. Das sind Wörter, die keinen Inhalt haben. Also unentbehrliche Wörter, so Hannah. Füllwörter, die nichtssagende Sätze füllen. Wörter wie: Wohl, denn, eben, schon. Und überhaupt und indes und doch …
Derartige Wörter sollte ich sprechen. Sie brauchte Heerscharen solcher Wörter. Zehnmal die Wortfolge: Und doch, und doch, und doch … Man hat etwas gesagt, das nichts bedeutet, dann macht man eine Pause und sagt: Und doch . Seufzend, grüblerisch, bebend sagt man das. Und doch . Und plötzlich ist es, als wäre das vorher Gesagte von Bedeutung. Und doch denke ich … Und doch glaube ich … Und doch meine ich … Als hätte man vorher etwas Ungeheuerliches gesagt, obgleich man eigentlich nichts gesagt hat. Und die Zuhörer horchen auf. Und sie hören den nächsten Satz, der wieder nichts bedeutet, und wieder eine Pause, und dann ein Wort wie gleichwohl oder überhaupt . Die eigentlichen Sätze werde März uns später noch vorlegen. Wir übten zunächst nur die Füge- und Bindewörter. Indes, wohl denn, denn doch, denn auch …
Sie fragte mich: Ob ich müde sei? Ob es noch gehe? Ob ich einen Kaugummi wolle? Ich nickte. Sie gab mir einen Kaugummi. Das erlebte ich als Hoffnung.
Während März immer noch Überlegungen anstellte, wie ich auf dem Sonderparteitag eine Rede halten könnte, ohne dabei allzu weit laufen zu müssen: etwa vom Auto ins Auditorium oder vom Auditorium auf die Bühne. Schon das war für März viel zu weit. Schreckensbilder quälend langer Gehstrecken. Körperliche Offenbarungseide, Blickorgien für die Opposition. Frau Caillieux von der Wahlkampfzentrale war nun bei ihm – und mit ihr Mitarbeiter, die Pläne ausbreiteten, auf denen die Gehund Wegstrecken des Parteitags aufgezeichnet waren. Das sei viel zu weit, so März. Er forderte kürzere Gehstrecken, die es nicht gab, und Frau Caillieux bat ihre Mitarbeiter um Vorschläge. Ich warte auf Vorschläge, so Frau Caillieux. Vorschläge, wie man von meinem Bein ablenken könnte. Wie man mittels
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