Der Ministerpräsident - ein Roman
friseurhaft. Selbst seine scherenschnippenden Fingerbewegungen bei guten Umfrageergebnissen. Das sei März.
Sie fragte mich, wer März überhaupt sei? Und ich antwortete: März sei März. Doch sie wollte wissen: Seit wann ich ihn kennen würde? Welche Funktion er genau ausübe? Ich wusste es nicht. Oder nicht wirklich. Irgendwann war er an meinem Krankenbett erschienen, und da war er dann: März.
Er war zum Beispiel wütend, als ich eines Nachmittags im Klinikpark spazieren ging. Ohne Rücksprache mit ihm oder wenigstens mit Frau Wolkenbauer. Man habe mich gesehen: ein furchtbares Gehinke. An der Grenze des Erbärmlichen und Grotesken. Was, wenn Fotografen das fotografiert oder Kamerateams das gefilmt haben? Sie seien überall. Im Umkreis der gesamten Klinik. Der politische Schaden wäre unermesslich.
Hannah erwiderte: Was daran so schlimm sei, wenn ich ein wenig hinke. Und März erklärte ihr: Dass das katastrophal sei, ein hinkender Gang. Das Gegenteil von aufrechtem Gang. Dass Wechselwähler bei einem solchen Anblick sogleich wegschauen oder wegschalten. Nichts wie weg. Der Anblick eines kränkelnden Zebras, das schon so gut wie tot ist. Wer wolle das sehen – geschweige denn wählen. Dass der amerikanische Präsident einen hervorragenden Gang habe, einen Gang, der keine Zweifel aufkommen lasse. Jeder Schritt setze um, was gesprochen werde. Eine schreitende Einlösung größter Wörter. Dass der Gang zum Rednerpult ein rhetorischer Akt sei. Dass damit schon alles Wesentliche gesagt sei. Was immer ein Redner danach noch sage. Oder sagen wolle. Dass selbst der Papst – über achtzigjährig – einen passablen Gang habe. Dass Politik von Bildern lebe. Nicht von Ideen oder von Überzeugungen, sondern von Bildern. Dass Politik nur noch als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei. Als Wohlklang und Gleichklang. Als Symbolwelt und Dekorum. Dass sie ansonsten nichts verhandle und nichts bewirke und nichts bedeute.
Er erkundigte sich bei Frau Wolkenbauer: Wie lange das noch dauern werde, bis ich wieder flüssig laufen könne. Er sehe kaum Verbesserungen. Der Sonderparteitag sei bereits Mitte Mai. Danach beginne der Wahlkampf. Der Wahlkampf. Das klang wie Abitur oder Leben und Tod oder Jüngstes Gericht. Doch Frau Wolkenbauer konnte nicht einmal sagen, ob man mich Mitte Mai bereits entlassen könnte. Und selbst wenn ja, dann wäre eine Anschlussheilbehandlung in einer Rehabilitationsklinik dringend erforderlich.
März winkte ab. Oder er wand sich auf einem Stuhl. Man dürfe sich nicht über Gebühr in meinem Zustand einrichten. Sich darin nicht ewig verschanzen. Es gelte irgendwann den Blick auch nach vorne und nach draußen zu richten. Er rechne für den 15 . Mai fest mit meiner Entlassung. Der Chefarzt persönlich habe ihm das zugesagt. Allerspätestens der 18 . Mai. März schwankte zwischen zwei öffentlichen Terminen, die ich dann wahrnehmen würde: entweder eine Rede auf dem Sonderparteitag in Hechingen oder die Jungfernfahrt eines Bodenseeraddampfers. Die U RSPRING . Der Name sei eine schöne Geste. Eine Geste des ganzen Bodensees an die Landespolitik und an mich. Ob ich mich darüber freuen würde? Ich müsste bei einem solchen Anlass nur anwesend sein. Keine Rede halten. Nur Hände schütteln. Grüßen und begrüßt werden. Winken. Den See anschauen. Mit der Besatzung einige Worte wechseln. Sonst nichts.
Doch wusste März nicht, wie nah mein neuer Dienstwagen an das Boot heranfahren könnte. Wie viele Schritte ich dann auf freier Fläche zum Boot gehen müsste. Fünfzig Meter? Hundert Meter? Er wies das Staatsministerium an, das ausmessen zu lassen. März betonte: Es wäre der erste öffentliche Auftritt des verunglückten Ministerpräsidenten. Begleitet von zahllosen Blicken und Fragen. Wie so ein Mensch nun aussieht? Nach zehn Tagen Koma und drei Monaten Krankenhaus. Wie es ihm geht? Wie er nun zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auftritt? Der Wagen fährt vor. Die Wagentüren werden geöffnet. Der Ministerpräsident steigt aus, und die Zuschauer sehen schon auf den ersten Metern, die der Ministerpräsident geht, dass sein Auftreten eher ein Einsinken und ein Einbrechen ist, ein hinkender Offenbarungseid – noch bevor überhaupt irgendetwas anderes zur Sprache kommt.
Deshalb also besser, meinte März, der Sonderparteitag, weil man dort jede Bewegung arrangieren, in Dunkelheit tauchen oder hell erleuchten kann. Je nachdem. Andererseits wäre auf dem Sonderparteitag eine Rede unumgänglich. Doch
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