Der Ministerpräsident - ein Roman
einige wenige Kilometer. Ich spürte so etwas wie Leichtigkeit, vielleicht sogar ernsthafte Fähigkeiten. Ob nun eigene Fähigkeiten oder die Fähigkeiten des Fahrrades – was ist der Unterschied, so Walter. Der Unterschied löse sich in Wohlgefallen auf, in eine durchgehende Bewegung. Beim Anblick der ersten Steigung wollte ich absteigen, doch zu meiner Überraschung schob ich den Moment des Absteigens immer weiter hinaus – bis wir oben waren.
Frau Wolkenbauer war außer sich. Wie März es wagen könne, mich ohne Rücksprache mit der Klinik auf ein Fahrrad setzen zu lassen. Dazu noch auf ein Rennrad. Dass das unverantwortlich sei. Und sie fiel März ins Wort, als dieser versuchte, sich zu erklären, und sie sagte ihm: Sie könne das nicht mehr hören, das Wort Wahlkampf. Sie werde das Wort nicht mehr länger hinnehmen. Wahlkampf, Wahlkampf. Es gebe für sie ab jetzt keinen Wahlkampf mehr, sondern nur noch das medizinisch Notwendige. Für sie war das alles eine Spielerei, eine Lächerlichkeit. Von der Belanglosigkeit eines Ring- oder Boxkampfes … Und März erwiderte, dass nicht er am Steuer des Unfallwagens gesessen habe. Dass nicht er für meinen Autounfall verantwortlich sei. Dass der Unfall ein Unfall zur Unzeit gewesen sei. Nicht zeitig genug, um einen neuen Spitzenkandidaten zu suchen, und viel zu spät für eine ausreichende Rekonvaleszenz. Dass er, März, seit Wochen nichts anderes mache als politische Schadensbegrenzung. Dass es wahrlich Leichteres gebe als Politik von einem Krankenhaus aus zu betreiben. Dass dieser Wahlkampf nicht irgendein Wahlkampf sei, sondern ein Richtungswahlkampf. Dass …
Frau Wolkenbauer erwiderte, dass man Derartiges von allen Wahlkämpfen behaupte. Und März erklärte ihr, dass es gerade bei dieser Wahl um Fragen allergrößten Ausmaßes gehe, um Standortpolitik, um Wirtschaftspolitik, um Hunderttausende von Arbeitsplätzen … Und Frau Wolkenbauer stellte ihm die Frage: Wie ein einzelner Mensch in der Lage sein könne, Hunderttausende von Arbeitsplätze zu retten. Wie das ein Ministerpräsident, der nicht einmal arbeitsfähig sei, schaffen solle … Und März erläuterte ihr: Es gehe bei einer Wahl nicht um einzelne Menschen, sondern es gehe um Mehrheiten. Um Mehrheiten gehe es, die durch einzelne Menschen geschaffen würden. Darum gehe es. Woraufhin Frau Wolkenbauer sich abwandte und sagte, sie verstehe nichts von Politik – und März stimmte ihr zu.
Später entschuldigte sich März bei ihr: Er ließ ihr aus dem Staatsministerium eine Kiste Wein zukommen. Er versprach ihr, sie künftig in alle weiteren Maßnahmen des Wahlkampfes stärker einzubinden. Er stand draußen auf dem Balkon und rauchte Zigaretten. Er schaute Richtung Wald. Er wirkte müde. Vielleicht weil er an den Wahlkampf dachte. Er dachte pausenlos an den Wahlkampf. Später kam Frau Caillieux von der Wahlkampfzentrale. Er fragte sie: Wie man einen solchen Wahlkampf in meiner Verfassung auf Dauer durchstehen könne? Sie antwortete nicht. Gesetzt den Fall, so März, der Fahrradauftritt beim Hechinger Parteitag wäre ein Erfolg. Was dann? Der Ministerpräsident könne nicht zu jedem weiteren Anlass mit dem Fahrrad kommen. Er, März, sprach nun von unserem Terminkalender: ein nicht enden wollendes Fließband an Terminen und Verpflichtungen. Wie das möglich sein soll? Wahlkampfauftritt in Ehingen – mit dem Fahrrad. Empfang rumänischer Premierminister, Landesflughafen – Fahrrad. Wie das gehen soll? Der rumänische Premierminister steigt aus dem Flugzeug, und der Ministerpräsident wartet auf dem Rollfeld mit seinem Fahrrad. Für März Undenkbarkeiten.
Frau Caillieux beharrte jedoch auf den Möglichkeiten des Fahrrads. Sie meinte bildliche Möglichkeiten. Das Fahrrad als politisches Bild. Es verkörpere Gesundheit, Natur und Bewegung. Eine rollende Bewegung. Der zukünftige Wahlkämpfer, er sei kein Geher mehr, sondern ein rouleur – ein Mensch, der sich auf Rollen und Rädern zu Hause fühle. Ohne Karosserie, ohne Lärm, ohne Motor. Eine Synthese aus Natur und Technik. Sportlichkeit und Eigenständigkeit. Eine sich selbst speisende, sich selbst genügende Bewegung – ohne ein Schieben oder Gehen. Oder ein Gefahren Werden. Das sei die Zukunft des Wahlkampfes.
Frau Caillieux sprach in Bilderfolgen politischer Bewegung. Sie meinte Herrscherbewegung. Und deren Fortbewegung. Ausgehend von der Frage: Wie sich Herrscher in früheren Zeiten fortbewegten? Sie bewegten sich zuerst auf Pferden. Sie waren Reiter.
Weitere Kostenlose Bücher