Der Ministerpräsident - ein Roman
könnte man diese Rede in akribischer Feinarbeit vorab aufzeichnen und dann abspielen lassen. Er gebrauchte das Wort Play-back. Politisches Play-back. Wie das in den USA immer mehr der Fall sei, nicht nur in Wahlkämpfen, sondern bei Reden überhaupt: Dass sich Redner dort nicht mehr länger den Gefahren unheilvoller Versprecher oder intellektueller Entgleisungen ausliefern. Dass immer mehr Reden (nicht nur in Amerika) aus dem Ruder laufen. Oder sich Redner in ihren Reden zunehmend versteigen und sich immer weiter versteigen, je mehr sie ihren verstiegenen Reden zu entsteigen versuchen – mit katastrophalen Folgen. Dass deshalb immer mehr Reden vorab in Tonstudios aufgezeichnet werden, um sie dann bei verschiedenen Gelegenheiten abzuspielen – mit den entsprechenden Mund- und Lippenbewegungen des Politikers, die man mit mir noch einüben werde. Er habe mit Frau Caillieux von der Wahlkampfzentrale darüber gesprochen. PPB. Political play-back . Dass dies eine Unabwendbarkeit sei, habe sie gesagt. Zumal in meiner Lage. Dass ich eine Parteitagsrede unmöglich frei halten könne; und ich eine solche Rede auch nicht ablesen könne, jedenfalls nicht in meinem gegenwärtigen Zustand. Dass das ein viel zu großes Risiko sei: für mich, für den Wahlkampf und für die Rede. Und er ließ Hannah kommen, die das wie kein anderer beherrsche, das Schneiden und Umschneiden und Zusammenschneiden politischer Reden.
Einstweilen blätterte März in Prospekten. Er suchte nach einem Stock für mich. Ein orthopädischer Stock statt einer Krücke. Wenigstens das, so März. Ein Stock, der, so März, aussehe wie ein Spazier- oder Wanderstock. Damit sollte ich ab jetzt gehen. Ein durchaus sportlicher Stock, der zugleich Assoziationen ins Staatsmännische eröffne. Der Staatsmann schreitet mit seinem Stock – aus feinstem Holz. Ein Stock, so feinsinnig geschnitzt, dass er fast nicht mehr aussieht wie ein Stock, sondern eher wie ein Stab, den man jederzeit auseinander- und wieder zusammenziehen kann. Wie ein Herrschafts- oder Königsstab, den man mit monarchischen Gesten hält. März zeigte mir das vor dem Spiegel. So gehe das. So.
Er begutachtete all die Stöcke, die uns gebracht wurden. Die meisten waren indiskutabel: biedere Spazierstöcke, Stöcke verziert mit Schwarzwaldschnitzereien, Altenheimstöcke, Skistöcke. Er entschied sich für einen Stock aus England. Ein Teleskopstock, den man auseinander- und zusammenziehen kann. Herzog von Edinburgh. So hieß der Stock.
Sie haben einen schönen Stock, sagte eine Dame, die mir im Klinikpark entgegenkam. Und ich nickte. Sind Sie wirklich Ministerpräsident? fragte sie, und ich sagte, dass ich es durchaus sei. Und ihr Mann rief mir zu: Gute Besserung. Er habe im Radio das Interview gehört. Das Interview mit Peter Sloterdijk. Ein hochinteressantes Interview. Er habe mich bei der letzten Wahl gewählt. Und seine Frau habe mich ebenfalls gewählt. Das sei Ehrensache. Und er werde mich bei der nächsten Wahl selbstverständlich wieder wählen. Und seine Frau werde mich bei der nächsten Wahl ebenfalls wieder wählen. Jetzt erst recht. Und er hob die Hand – wie zu einer kleinen Faust.
Und auch andere Patienten, die mich sahen, sie versprachen, mich zu wählen. Ich wähle Sie. Und März winkte ihnen nach. Er war versucht, unter den Patienten kleine Umfragen durchzuführen: Wen sie wählen würden, wenn nächste Woche Wahl wäre, und die Rückmeldungen, die er zu hören bekam, waren erfreulich, äußerst erfreulich. Eine englische Patientin nannte mich Prime Minister. My dear Prime Minister. How do you do, Mister Prime Minister. Und Patienten aus Deutschland schlossen sich ihr an, sagten ebenfalls Premierminister: Guten Tag, Herr Premierminister. Geht es Ihnen hoffentlich besser, Herr Premierminister.
Jedenfalls ahnte ich etwas von dem Klang des Amtes: Ministerpräsident. Nicht einfach nur Minister oder Präsident, sondern beides zusammen vereint: Ministerpräsident. Und März winkte mich ins Zimmer. So als wäre der Klinikpark ein Schulhof und das Zimmer ein Schulzimmer. Und er bedeutete mir: Regieren! Wenigstens ein bis zwei Stunden am Tag. Um einen Eindruck davon zu bekommen. Aktenstudium. Verwaltungsabläufe. Grundsatzprogramme. Und wieder Aktenstudium. Da mich dieses Studium ermüdete, war ich meist im Bett. Ich nickte den Vermerken wohlwollend, wenn nicht aufmunternd zu, oder nickte über den Vermerken ein und versuchte mich wieder wach zu machen, indem ich heftig nickend Zustimmung
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