Der Moderne Knigge
Stimmung genannt wird, wodurch der bedeutende Mann recht hervortritt.
Wenn man selbst dieser bedeutende Mann sein sollte, so entschuldige man sich nicht, wenn man endlich erscheint, um anzudeuten, daß man mehr ist, als die anderen. Man höre auch nicht, daß man als ungezogen und rücksichtslos bezeichnet wird, und sei überzeugt, daß jeder Gast frägt, was man sich denn eigentlich einbilde.
Ist kein so hoher Gast geladen, sondern gehören die Gäste derselben Gesellschaftsklasse an, so erscheine man pünktlich, um noch eine Weile vor Beginn der Tafel herumzustehen, sich die Hände zu reiben und »Wie geht's?« zu fragen. Auf diese Weise trainiert man sich für die meist folgende Langeweile.
Sind die Plätze schon belegt, weil der Wirt gern zwei Männer, die sich nicht ausstehen können, nicht zusammen oder einander gegenübersetzt, so zittere man, bis man die Gewißheit hat, daß man nicht neben einem Zuckerkranken placiert worden ist. Nur wenn man mit Vergnügen von körperlichen Leiden und nötiger Diät reden hört, freue man sich.
Da die Tafelrunde gewöhnlich aus älteren Herren besteht, so sage man jedem, er sehe vortrefflich aus, besonders wenn es nicht wahr ist. Ist man ein Vierziger und spricht mit einem Sechziger, so frage man, ob man nicht mit diesem in einem Alter sei. Dies macht Beiden Vergnügen.
Sind angenehme Mitbürger anwesend, so erwarte man mit Sicherheit, gefragt zu werden: »Leben Sie auch noch?« Man verneine, damit der Frager meint, man sei angenehm berührt, und damit er nicht merke, daß man ihn für einen Dummkopf halte.
Wenn nach der Suppe das Anekdotenerzählen ausbricht, so erzähle man gleichfalls eine alte Schnurre. Man muß sich nicht freihalten lassen. Muß man eine Anekdote zum sechsten oder achten Mal erzählen hören, so grolle man dem Erzähler nicht. Er weiß, daß er ein Wiederkäuer ist, und verläßt sich auf die Engelsgeduld seiner Opfer.
Man sehe sein Hemd nicht an, so weit es sichtbar ist, denn es sind einige Rotweinflecke zu entdecken. Aber man betrachte die Mitglieder der Tafelrunde, die Rotweinflecke haben sich bei allen schon eingestellt, und es macht den Eindruck, als sei dies Mode.
Man trinke mehr, als dem Wirt angenehm ist, aber nicht mehr, als man vertragen kann. Kommt ein herber Sekt, so bitte man um süßen. Kommt ein süßer Sekt, so bitte man um herben. Dann hat man beide Sorten. Ich habe dies von einem Tischnachbar in einer Herrengesellschaft gelernt. Er hieß – ich werde seinen Namen nie vergessen – Müller.
Man thue alles, was möglich ist, um die Umgebung in angenehmer Laune zu erhalten. Hat man einen Nachbar, der sehr undeutlich spricht und den man deshalb nicht versteht, so sage man dies nicht, sondern nicke immer mit dem Kopf als Zeichen, daß man kein Wort aus seinem Munde verloren habe. Erzählt ein Nachbar eine Anekdote, so lache man, selbst wenn sie durchaus pointenlos und schlecht vorgetragen sein sollte. Hat der Erzähler die Pointe ganz vergessen, so lache man noch herzlicher und nenne ihn einen Tausendsassa und unerschöpflichen Causeur. Hat ein Nachbar allerlei an einem Gang auszusetzen, der tadellos ist, so schließe man sich seinem Tadel an und verbeuge sich vor der feinen Zunge des Nörglers. Dies und ähnliches thue man im eigenen Interesse, um ungestört die Tafelfreuden genießen zu können.
Ist man verheiratet und bekommt von dem galanten Wirt ein Bouquet für die Gattin mit auf den Weg, so betrachte man dies als einen Wink des Schicksals, noch in ein Café zu gehen, wo man das Bouquet vergessen kann. Beachtet man diesen Wink nicht, sondern geht direkt nach Hause, so sage man der Gattin die Wahrheit über den Ursprung des Bouquets, da sie ja doch nicht glaubt, daß man es auf dem Heimweg gekauft hat. Für die Gattin scheue man kein Opfer.
Wird bei Tisch auf die abwesenden Damen getoastet, so zeige man nicht zu deutlich die Freude darüber, daß man eine Ausrede hatte, ohne die Gattin auszugehen. Man wisse, sich zu beherrschen. Man erhebe sich nicht zu begeistert und stoße nicht zu stürmisch an. Dem Heuchler, der den Toast sprach, rufe man innig zu: »Sehr liebenswürdig. Werde meiner Frau heute noch von Ihrem galanten Trinkspruch erzählen.« Das Loos des Toastes auf die abwesenden Damen ist immer beklagenswert, denn entweder freut sich, wie gesagt, der Hörer, daß sie abwesend sind, oder man hält mit mir ein Diner ohne Damen für uninteressant. Mir kann selbst der älteste und mit Orden bedeckteste Geheime
Weitere Kostenlose Bücher