Der Moderne Knigge
Komödiantennatur keine große Ansprüche erhebende Weise kommt man rasch zum Namen eines Kenners, so sehr garnicht man solcher sein sollte.
Hat man einen Nachbar, der sehr interessante Liebesabenteuer erzählt, so lüge man gleichfalls nach Kräften. Erzählt er etwas unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, so sei man überzeugt, daß man der einzige ist, dem er es bis dahin noch nicht erzählt hat.
Behauptet jemand, er habe seine Frau so erzogen, daß er lebe, wie es ihm beliebe, so hat man einen unrettbaren Pantoffelhelden vor sich, der eigentlich sagen wollte: »Wir Deutschen fürchten unsere Frau und sonst nichts in der Welt!«
Hat man einen höchst langweiligen Nachbar und ist ihm das Bein eingeschlafen, so wundere man sich, daß man noch wach ist, und beneide das Bein, das sich nicht zu beherrschen braucht.
Trifft man jemand in der Herrengesellschaft, den man längere Zeit nicht gesehen hat, so erkundige man sich nicht ohne weiteres nach dem Befinden seiner Frau, denn sie hat ihn mittlerweile vielleicht verlassen. Mir hat einmal ein Bekannter auf meine Frage, wie es seiner reizenden Frau gehe, geantwortet: »Sie wollen mich wohl zum Besten haben!« Ich habe dadurch nichts über den Gesundheitszustand seiner Gattin erfahren, obschon sie sich seit einiger Zeit zum erstenmal seit ihrer Vermählung sehr wohl befand. Allerdings nicht im Hause ihres Gatten.
Trifft man unter den älteren Herren einen, der sich wieder verheiratet hat, so drücke man sein Beileid durch ein herzliches Gratulor aus und schüttele ihm die Hand. Man erleichtere dann sein sorgenvolles Herz durch einige Worte des Bedauerns, die man in dieser Sache an einen anderen richtet.
Werden zum Nachtisch Selleriestangen gereicht, so nehme man eine, auch wenn man sie nicht gerne ißt. Es sieht aber besser aus.
An fast jeder Herrentafel pflegt man wenigstens ein Gemüt zu finden, dessen im Schornstein des Börsenwitzes sorgfältig geräucherte Zunge allgemein gefürchtet ist. Mit einer Tapferkeit, welche am wenigsten durch die Abwesenheit seiner Opfer zu bändigen ist, vermeidet er jede Glosse, welche die Abwesenden nicht lächerlich machen konnte, und weiß er ihnen immer neue Schwächen anzudichten. Man nehme sich vor ihm nicht in Acht, denn es nützt nichts.
Wird man von einem guten Freunde, der für seine Belesenheit Reklame machen will, gefragt, wo das Wort stehe: »Es wandelt Niemand ungestraft unter Palmen«, so antworte man gefällig: Im »Nathan«. Dann giebt er ganz richtig und lächelnd die »Wahlverwandtschaften« als Quelle an und ist glücklich. Wenn man mit einer solchen Kleinigkeit einen Menschen glücklich machen kann, so soll man es thun.
Ist bei Tisch Musik mit auch nur einer einzigen Trompete, so bedeutet dies einen unumstößlichen Beweis dafür, daß der Wirt der Geduld seiner Gäste felsenfest vertraut. Man füge sich also, indem man sich sagt, daß es kein Konzert ohne Pausen giebt. Man beneide aber die Orchestermitglieder, weil sie nachher ohne Musik essen.
Man wird nicht daran denken, mir den Vorwurf zu machen, daß ich dem ehrenwerten Stand der Angestellten zu nahe treten will, wenn ich mich vorübergehend mit dem peinlichen Mittagessen beschäftige, zu welchem sie von ihrem Chef befohlen werden. Ein Angestellter wie jeder, der einen Chef sein nennt, ist ein Untergebener, aber wer ist nicht Untergebener? Die Sprache hat das Wort Übergebener nicht. Wir alle sind untergeben. Aber nicht alle Untergebenen werden von ihrem Chef eingeladen, viele werden von solch schmerzlicher Überraschung nicht erreicht.
Man weiche der Einladung nicht aus, so leicht dies durch einen künstlichen Sturz mit dem Zweirad, oder durch die etwas mildere Form eines ärztlichen Attestes zu bewerkstelligen wäre. Man zöge sich den Haß des Chefs zu, so gleichgültig diesem es wäre, wenn man nicht erschiene. Er würde sich dadurch in dem Entschluß stärken, keine Zulage zu geben, obschon er an solche auch nicht denken würde, wenn man erschiene, da er das Mittagessen nach dieser Richtung hin sehr hoch einschätzt und schon als Zulage betrachtet.
Man esse etwa sechs Tage vor dem Fälligwerden der Einladung Probe, indem man anhaltend so ißt, daß man auf den scharf beobachtenden Chef keinen üblen Eindruck macht. Man probiere also ganz anders zu essen, als man in seiner Familie, oder unter guten Freunden zu essen wagt. Man esse ungemein bescheiden, artig, immerfort befriedigt und ohne Bemerkungen zu machen, ganz einerlei, ob der Chef
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