Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
jetzt bin ich eine vollkommen andere Person. Wenn ich das hier packe, dann bin ich für den Rest meines Lebens Yves Labrousse. Ein Mann ohne Vergangenheit. Und mit einer Zukunft, über die allein ich entscheide.
26. Dezember 1986
Es war heiß, als sie uns heute in Aubagne rausgelassen haben, in der Rue de la République. Es kam einem kein bisschen wie Weihnachten vor. Wir trugen alle rote Schulterstreifen an unseren Kampfanzügen. Der Unteroffizier hat uns gesagt, er gäbe uns fünf Minuten, um Briefe oder Postkarten zu schreiben und aufzugeben. Es wäre das letzte Mal, dass wir an jemanden außerhalb der Legion schreiben könnten, hat er erklärt. Und das letzte Mal, dass wir alleine rausdürften.
Ich bin den anderen zum Kiosk gefolgt, aber ich wusste eigentlich nicht, wieso. Es gab niemanden, dem ich schreiben wollte, keinen, dem ich noch irgendwelche letzten Gedanken mitzuteilen hatte, bevor sich mein Leben für immer ändern würde. Von den Typen, mit denen ich vor drei Wochen in Aubagne ankam, hat nur eine Handvoll durchgehalten. Der Frankokanadier Jacques, der jetzt Philippe heißt, der Japse – kommt mir immer noch seltsam vor, ihn Henri zu nennen – und ein paar andere. Der Neuseeländer und einige von den Engländern wurden vor ein paar Tagen nach Hause geschickt.
Ich habe Philippe dabei zugesehen, wie er etwas auf die Rückseite der Karte kritzelte, und mich gefragt, was er wohl schreibt. Was sagt man jemandem, wenn es das allerletzte Mal ist? Ich habe überhaupt nicht nachgedacht, als ich einfach so eine Karte vom Ständer nahm – einen roten Sonnenuntergang über den Ausläufern der Seealpen. Ich habe sie umgedreht, mir einen Kugelschreiber von der Theke genommen und ihren Namen und die Anschrift geschrieben, die ich kenne, solange ich denken kann. Schon komisch, aber ich habe mir keinen Moment einen Kopf darüber gemacht, was sie wohl denkt, wie sie sich gefühlt haben mag, als sie in mein Zimmer gekommen ist und festgestellt hat, dass ich weg war. Ist sie jetzt glücklicher? Oder trauert sie um mich wie meine richtige Mutter all die Jahre lang?
Nachdem ich die Adresse geschrieben hatte, wusste ich nicht weiter.
Philippe schlug mir auf die Schulter. «Mach schon, Kumpel, die kriegen uns am Arsch, wenn wir zu spät kommen!»
Mit fiel immer noch nichts ein, was ich ihr schreiben sollte, und beinahe hätte ich die Karte zerrissen.
«Wird’s bald!», brüllte er von der Tür aus. «Der Lkw wartet.»
Und so habe ich in Hetze schlicht und ergreifend Au revoir geschrieben. Und darunter Yves . Ich habe die Briefmarke angeleckt und mit dem Handballen festgedrückt, dann bin ich die zehn Meter die Straße runter zum Briefkasten gerannt.
Erst als ich hinten auf den Lkw gestiegen bin, habe ich mich gefragt, was sie mit der Karte eigentlich anfangen soll.
Ich sehe ihr Gesicht vor mir, ihre Ratlosigkeit. Und bei dem Gedanken muss ich lachen. Die wäre ich los. Ich bin dabei, in ein neues Leben aufzubrechen; ich werde lernen, mit einer Waffe umzugehen, zu kämpfen. Zu töten.
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Teil fünf
Kapitel dreiundvierzig
Miramont, November 2008
Es herrschte betretenes Schweigen im Raum. Niemand wusste, wo er hinschauen sollte. Sophies erster Instinkt war, ihrem Vater beizuspringen, doch sie sah Bertrands warnenden Blick und hielt sich zurück. Ihr Aufenthalt in dem großen, «sicheren» Haus, das versteckt in einem ach so idyllischen Bergtal lag, entwickelte sich zu einem Albtraum. Endlose Tage der Langeweile und Frustration, ein Leben in der Warteschleife, während die Welt sich überall sonst weiterdrehte. Es glich immer mehr einem Gefängnis. Und jetzt das.
Auch Nicole war versucht, ein gutes Wort für ihren Mentor einzulegen, doch es kam nicht in Frage, sich in einen Familienkonflikt einzumischen, und so behielt sie ihre Meinung für sich, während sie vor Verlegenheit rot wurde und auf ihre Hände starrte.
Anna, die auf der anderen Seite des Flurs in der Küche das Mittagessen kochte, konnte jedes Wort hören, fuhr aber mit ihrer Arbeit fort, als wäre nichts.
«Du bist unmöglich, ist dir das eigentlich klar? Absolut unmöglich!» Auch Kirsty war rot geworden, allerdings vor Wut, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie stand noch unter dem Schock der Nachricht, dass Roger angeschossen worden war, und kochte vor Wut, weil Enzo sie nicht angerufen hatte. Dass der Vorfall bereits achtundvierzig Stunden her war und sie bis gerade eben nichts davon gewusst hatte.
In
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