Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
den letzten Tagen hatte sie wiederholt versucht, Roger anzurufen, und sich gewundert, wieso sie ihn nicht erreichen konnte, weder unter seiner Festnetznummer noch übers Handy. Jetzt wusste sie es.
«Solange ich nicht hier war, um dich daran zu hindern, wärst du nach Paris gefahren, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen», versuchte Enzo ihr klarzumachen.
«Und ob ich das getan hätte.»
«Und hättest dich dem Killer direkt in die Schusslinie gestellt.»
Kirsty schüttelte heftig den Kopf. «Nein, nicht, solange ich mich von dir ferngehalten hätte. Mit dir hat das alles angefangen, du hast das ausgelöst. Du bist die Zielscheibe. Du solltest einen Warnhinweis auf der Stirn tragen: Achtung! Lebensgefahr! Personen in meiner Nähe riskieren, in die Luft gejagt oder erschossen zu werden! » Sie warf Bertrand einen kurzen Seitenblick zu. «Oder einem wird sein Lebenstraum bis auf die Grundmauern niedergebrannt.»
Als sie sich abwandte, packte Enzo sie am Arm. «Wo willst du hin?»
«Was glaubst du? Ich fahre nach Paris.»
«Nein, das wirst du nicht.»
«Du hast mir gar nichts zu sagen.»
«Ich kann dich daran hindern, einen idiotischen Fehler zu begehen. Wenn du nach Paris fährst, änderst du nicht das Geringste daran, ob Roger gesund wird oder nicht.»
«Und was hast du vor? Gibst du mir Hausarrest? Schließt du mich in mein Zimmer ein?»
«Notfalls ja.»
«Ach, du kannst mich mal. Ich bin keine fünf mehr. Wie willst du mich daran hindern?»
«Und wie kommst du hin? Zu Fuß?»
«Bertrand bringt mich zum Bahnhof in Aurillac.»
Der Freund ihrer Schwester wurde bis in die Haarspitzen rot.
«Nein, das tut er ganz bestimmt nicht, weil er weiß, dass ich recht habe. Und weil er nichts tun würde, was dich in Gefahr bringt.» Enzo warf Bertrand einen Blick zu. Einen Blick, der Bände sprach. Bertrands Nicken war kaum zu sehen. «Und dasselbe gilt für Anna.»
Kirsty starrte ihn mit großen, tränennassen Augen an. «Du hast kein Recht …» Sie war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. «Ich lasse mir von dir keine Vorschriften machen.»
«Oh doch!»
«Mit welchem Recht?»
«Ich bin dein Vater!»
Aus dem Augenwinkel nahm Kirsty wahr, wie Anna in der Tür erschien. Kurz drehte sie sich zu ihr um und sah, wie sie kaum merklich den Kopf schüttelte. Dann erwiderte Kirsty den Blick ihres Vaters. Am liebsten hätte sie gebrüllt: Nein, bist du nicht! Du bist nicht mein Vater und warst es auch noch nie! Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge. Doch etwas hielt sie zurück, ein Instinkt, der ihr befahl, sie besser herunterzuschlucken. Und so sagte sie stattdessen: «Du hast Roger von Anfang an nicht gemocht, stimmt’s? Es hat dir nie gepasst, dass ich mit ihm zusammen bin.»
Jetzt brach der Damm, und Kirsty heulte laut auf, stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hoch. Sie hörten sie den ganzen Weg hinauf schluchzen, bis oben die Tür zukrachte.
In der Stille, die auf ihren Abgang folgte, ertönte laut das langsame Ticken der Standuhr in der Diele. Staubkörnchen schwebten scheinbar schwerelos im Sonnenlicht. Von draußen drang der Lärm von Kindern auf dem Dorfschulhof über ein frostig weißes Feld herüber. Eine normale, glückliche Welt, die in einem Paralleluniversum zu existieren schien.
* * *
Enzo fand Nicole im Computerzimmer, eine halbe Stunde nach Kirstys Ausbruch. Sophie und Bertrand hatten das Haus verlassen. Zu einem Spaziergang, wie sie sagten. Doch eigentlich, um der schrecklichen Atmosphäre im Haus zu entrinnen, wie Enzo vermutete. Anna war in die Küche zurückgekehrt und hatte Enzo mit sich und der noch frischen Erinnerung an die ganze Szene mit Kirsty alleingelassen.
Ihn überkam eine Woge des Zorns auf Rickie Bright. Das alles war seine Schuld. Allein seinetwegen waren sie alle hier. Der Mann war ausgezogen, Stück für Stück Enzos Leben zu zerstören, nur um seinen Ermittlungen ein Ende zu setzen, doch er hätte nicht im Entferntesten geahnt, in welchem Ausmaß seine Rechnung aufging. Inzwischen interessierte sich Enzo kaum noch dafür, wieso Bright Lambert ermordet hatte. Er wollte ihn nur noch schnappen, um es ihm heimzuzahlen. Er wollte ihm sämtliche Masken herunterreißen und aller Welt den abgebrühten, eiskalten Mörder vor Augen führen, der er war. Ein Mann, der Leben zerstörte, gewissenlos und böse.
Nicole wagte vor Verlegenheit kaum, ihm in die Augen zu blicken. Sofort nachdem Sophie und Bertrand zu ihrem Spaziergang aufgebrochen waren, hatte sie sich in die
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