Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
abtransportiert worden war, hatte ein Notarzt Enzo untersucht, die Wunde in der Wange desinfiziert und mit Mull und Pflaster versorgt. Danach hatte er dem Ermittlungsleiter grünes Licht gegeben, ihn zu befragen.
Es war ein langes, wirres Gespräch gewesen. Enzo konnte immer noch nicht klar denken, doch der Beamte wusste, wer er war. Seit dem öffentlichen Aufsehen, das seine Aufklärung zweier Fälle in Raffins Buch erregt hatte, war er bei der französischen Polizei berühmt-berüchtigt, und man begegnete ihm mit einer Mischung aus Argwohn, Ehrfurcht und offener Ablehnung. Als herauskam, dass Enzo und Raffin bereits seit einer Weile am Fall Lambert arbeiteten, hatte einer der Beamten in Zivil einen anderen angewiesen: «Holen Sie Martinot ans Telefon. Sehen Sie zu, dass Sie ihn herbekommen.»
Schon länger hatte Enzo leises Gemurmel in der Eingangsdiele gehört, dann vernahm er seinen Namen und sah auf. «Monsieur Mackay.» Eine vertraute, gedämpfte Stimme, in der Verständnis mitschwang, im Gegensatz zu den Stimmen der anderen Polizisten. «Ich hätte nie damit gerechnet, noch einmal an einen Tatort gerufen zu werden.» Jean-Marie Martinot trug seinen dunkelblauen Mantel mit den Essensflecken, und Enzo registrierte, dass seine Socken auch diesmal nicht zusammenpassten. Seinen charakteristischen breitkrempigen Filzhut hatte er ein wenig aus der Stirn geschoben, und ihn umwehte ein starker Geruch nach frischem Tabakrauch. Er wollte Enzo mit Handschlag begrüßen, doch Enzo hielt ihm nur beide Handflächen hin, um ihm Raffins Blut zu zeigen, und zuckte zur Entschuldigung die Achseln. Wahrscheinlich durfte er bald duschen und die Kleider wechseln. Auch wenn er bezweifelte, dass keine noch so ausgiebige heiße Dusche das Entsetzen abwaschen konnte, das ihn angesichts des Schusses auf Raffin immer noch lähmte.
«Er wollte wohl Sie erwischen», sagte Martinot.
«Vermute ich auch.»
«Wieso hat er dann danebengeschossen? Schließlich gehen wir beide davon aus, dass er Profi ist.»
Enzo deutete mit dem Kopf auf den Tisch, wo das Blatt Papier lag. Es war von seinen blutigen Fingern verschmiert, doch er hatte nicht einmal daran gedacht, es sich anzusehen. «Das muss jemand unter der Tür durchgeschoben haben. Ich habe mich genau in dem Moment danach gebückt, als der Schuss fiel. Purer Zufall, dass er Raffin getroffen hat und nicht mich. Er muss gemerkt haben, dass er mich verfehlt hat, und den zweiten Schuss hat er wahrscheinlich zu hastig abgegeben.» Enzo erinnerte sich an Raffins beinahe prophetische Worte, die er erst wenige Stunden zuvor gesprochen hatte: Er ist hinter dir her, Enzo, nicht hinter mir. Ich begebe mich wahrscheinlich in größere Gefahr, wenn ich mit dir zusammen bin. «Wissen wir schon irgendetwas über seinen Zustand?»
Martinot sah ihn mit grimmiger Miene an. «Kritisch, Monsieur. Ein Lungenflügel ist kollabiert, und er hat sehr viel Blut verloren.»
«Ich weiß. Das meiste davon habe ich an mir.»
Der pensionierte Commissaire sah ihn nachdenklich an. «Wieso versucht unser Mann nun plötzlich, Sie umzubringen? Wissen Sie inzwischen, wer er ist?»
«Ich weiß, wer er war .» Enzo erzählte ihm von der Reise nach London, seiner Begegnung mit dem Zwillingsbruder, der Entführung aus Cadaqués in den frühen siebziger Jahren. «Die Tatsache, dass er einen eineiigen Zwilling hat, bedeutet, dass wir genau wissen, wie er aussieht. Wenn wir ein Foto von William Bright besorgen, geht es glatt als eins von ihm durch. Sie können es an sämtliche Polizeidienststellen in Frankreich verteilen, es in den Medien veröffentlichen. Außerdem wissen wir, dass ihm das rechte Ohrläppchen fehlt. Das sollte also schon mal helfen.»
Allmählich kehrte Enzos Geistesgegenwart zurück und zugleich eine mahnende Stimme, Martinot nicht zu viel zu erzählen. Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei war begrenzt, und so behielt er seine Kenntnisse über Brights Kindheit und Jugend im Roussillon sowie seine an Hämophilie leidende Entführerin für sich. Schließlich konnte nichts davon Raffin jetzt noch helfen. Das lag allein bei den Göttern.
Martinot seufzte. «Ich bewundere Ihre Fähigkeiten, Monsieur Mackay. Aber, offen gesagt, sollten Sie das hier wirklich den Profis überlassen.»
Enzo sah zu ihm auf. «Ich stecke doch da jetzt nur drin, weil die Profis beim ersten Mal versagt haben.» Kaum waren ihm die Worte über die Lippen, bereute er sie. Martinot hatte zu seiner Zeit getan, was er konnte. Er war
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