Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
was er ihm und seiner Familie angetan hatte. «Aber vorher habe ich noch ein anderes Anliegen an Sie, Nicole.» Nur mit Mühe zügelte er seinen Zorn und konzentrierte sich.
«Was Sie wollen.»
«Ich möchte Sie bitten, mir eine Liste mit sämtlichen Personen zu verschaffen, die an der Bluterkrankheit leiden und im Roussillon leben.»
Er sah ihr Staunen. Die Frage in ihren Augen. Doch sie sagte nur: «Das ist das Departement Pyrénées-Orientales, nicht wahr?» Enzo nickte. «Dann ist Perpignan die Verwaltungshauptstadt.»
«Wahrscheinlich.»
«Also gut. Bluter. Soll ich die Suche noch irgendwie eingrenzen?»
Enzo holte tief Luft. «Ja. Wir suchen eine Frau.»
Kapitel vierundvierzig
Die Novembertage wurden spürbar kürzer. Die Sonne stand jetzt tief am Himmel, fast konnte man zusehen, wie die Schatten länger wurden. Nach den wenigen angenehmen Mittagsstunden lag nicht mehr viel Wärme in der Luft, als hätte sie sich in den unendlich weiten Himmel verflüchtigt. Einen Himmel, der sich im Westen von Zartgelb zu Orange und schließlich Rot verfärbte, je weiter sich die Erde langsam um ihre Achse drehte. Geisterhaft blass war schon der Vollmond zu erkennen.
Kirsty war nicht am Mittagstisch erschienen, und so hatten die übrigen fünf in beklommenem Schweigen gegessen. Danach hatte sich Nicole ins Computerzimmer verdrückt, während Bertrand und Sophie sich hinsetzten, um die jüngste Welle einer zunehmenden Flut an nachgesandter Post von der Versicherungsgesellschaft zum Schadensersatz für das abgebrannte Fitnessstudio zu beantworten.
Enzo und Anna schlenderten in dicken Jacken und Schals im letzten kalten Tageslicht durchs Dorf. Sie wollte wissen, was er herausgefunden hatte, und es half ihm, seine eigenen Gedanken zu ordnen, wenn er ihr den Ermittlungsstand Punkt für Punkt erläuterte:
«Was für eine bizarre Geschichte! Ein gerade mal zwanzig Monate altes Kind wird vor fast vierzig Jahren aus einem Urlaubshotel an der Costa Brava gestohlen. Ein Junge, der zu einem Mörder heranwächst. Von einer Engländerin entführt, die ihn höchstwahrscheinlich im Roussillon großzieht, nur wenige Stunden vom Tatort entfernt. Und der Junge weiß nicht, dass ein Stück weiter im Süden seine Mutter sich beharrlich weigert, den Ort des tragischen Vorfalls zu verlassen, um da zu sein, falls er je wiederkommen sollte.»
Er betrachtete Anna und sah die Wärme in ihren dunklen Augen, als er sie mit seinen Worten in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zurückversetzte.
«Irgendwann als Teenager findet er heraus, wer er wirklich ist. Mit achtzehn spürt er dann seine richtige Familie auf und stellt fest, dass er einen Zwillingsbruder in London hat. Er stiehlt ihm Geld, Kleidung und seine Identität und beginnt als sein eigener Zwilling ein neues Leben.»
«Glaubst du, er gibt sich immer noch als sein Bruder aus?»
«Das bezweifle ich. Das war wohl eher so etwas wie ein Sprungbrett zu einer völlig neuen Identität. Aber zumindest wissen wir jetzt, wie er aussieht, und das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Suche.»
«Denkst du, du wirst ihn schnappen?»
«Oh, ich krieg den Kerl», sagte Enzo mit eiserner Entschlossenheit. «Wenn er mich nicht vorher erledigt. Außerdem weiß ich jetzt, wo ich die Frau entdecke, die ihn entführt hat. Durchaus möglich, dass ich dort etwas finde, irgendetwas, das mir wieder einen Schritt weiterhilft.» Er verlor sich kurz in Gedanken, dann war er wieder ganz bei der Sache. «Und wir haben den Schauspieler gefunden, der in Cahors meinen Arzt gemimt hat. Noch eine Spur, die uns zu ihm führen könnte. Ich kreise ihn immer enger ein. Fast hab ich ihn schon an der Angel, und sobald er zugebissen hat, hole ich ihn ein.»
Sie hakte sich bei ihm unter. «Vor deiner Abreise hast du mir erzählt, du hieltest ihn für eine Art Profi.»
«Ja.»
«Also hat … wie hieß er noch gleich mit richtigem Namen?»
«Bright. Rickie oder Richard Bright.»
«Also hat Bright diesen Lambert nicht aus persönlichen Gründen getötet.»
«Ich denke nicht. Ich vermute, er wurde beauftragt.»
«Und hast du auch schon irgendeine Ahnung, wer das getan haben könnte und warum?»
Enzo schüttelte den Kopf. «Nicht die Spur. Ich schätze, das kriegen wir allenfalls heraus, wenn wir Bright in Gewahrsam nehmen und ihn überreden, es uns zu verraten.»
Sie kamen an der Baumreihe vor der Kirche vorbei, wo unter jedem ihrer Schritte das trockene, gefrorene Laub knisterte. Auf der einen Straßenseite
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