Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
angestellt. Wussten Sie, dass es in ganz Frankreich nur etwa dreieinhalbtausend Bluter gibt? Demnach konnte es – statistisch gesehen – in einer Gegend wie Pyrénées-Orientales, mit einer Einwohnerzahl von unter einer halben Million, höchstens um die dreiundzwanzig geben.»
«Es ist eine seltene Krankheit, Nicole. Worauf wollen Sie hinaus?» Enzo merkte, wie sie seine Geduld ein wenig strapazierte.
«Nun, wiederum rein statistisch gesehen, müssten es alles Männer sein.» Sie legte eine Kunstpause ein. «Und nun raten Sie mal!» Doch sie gab ihm gar nicht erst die Zeit dazu. «Tatsächlich standen zweiundzwanzig auf der Liste.» Sie nahm ein Blatt Papier aus dem Drucker und reichte es Enzo. «Der statistischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz ist eine Frau darunter.»
Enzo starrte auf den Ausdruck in seiner zitternden Hand. Ihm kamen Raffins Worte in Paris wieder in den Sinn: Er ist nur einen Steinwurf entfernt. Das sagt mir mein Gefühl. Und zum ersten Mal spürte er es auch – dass Rickie Bright hinter der nächsten Ecke lauerte. Möglicherweise nur den richtigen Moment abwartete, in dem Enzo sich blickenließ. Nicoles triumphierende Schlusspointe registrierte er nur noch mit halber Aufmerksamkeit.
«Sie heißt Elizabeth Archangel, lebt in einem alten Fischerort am Mittelmeer, nicht weit von der spanischen Grenze. Das Kaff heißt Collioure.» Eine winzige Pause, um die Spannung noch zu steigern. «Und sie ist Engländerin.»
Kapitel fünfundvierzig
Enzo stellte sein Auto auf dem Place du 8 Mai 1945 ab, im Schatten des Château Royal. Er wusste, dass es in der Reisesaison fast unmöglich gewesen wäre, einen Parkplatz zu finden, doch um diese Jahreszeit war die Stadt fast menschenleer, und in der kühlen, neblig feuchten Morgenluft, die von den Ausläufern der Pyrenäen herunterströmte, lag über dem Ort ein Hauch von Vernachlässigung. Geschäfte, Galerien und Restaurants hatten für den Winter dichtgemacht. Die Bürgersteige wirkten ohne das bunte sommerliche Angebot an Kunst und anderen Waren trist und leer. Die Platanen an der Avenue Camille Pelletan hatten ihr Laub abgeworfen, und nun häufte es sich an der Mauer des Kais, wo noch vor einem Monat in der lauen Herbstluft des Mittelmeers Tische gestanden und Feriengäste zu Abend gegessen hatten. Jetzt waren diese Tische und Stühle bis zum nächsten Frühling aufeinandergestapelt und mit Planen zugedeckt.
Ein paar Fahrzeuge parkten in der Überlaufrinne – ein höchst riskanter Parkplatz bei sommerlichen Gewittern mit ihren heftigen Regenfällen, wenn sich die Sturzbäche aus den Bergen durch das trockene Betonbett wälzten und sich in die Bucht ergossen. Heute jedoch ließ die schneidend kalte Brise von der See keine Niederschläge befürchten.
Enzo merkte sich das Schild im Fenster des Café Sola auf der anderen Seite der Rue de la République – WLAN-Hotspot . Er lief den Quai de l’Amirauté entlang, am Bouleplatz vorbei und zu der kleinen Brücke über den Kanal, wo er beobachtete, wie Soldaten des Centre National d’Entraînement Commando von brüllenden Offizieren gedrillt wurden. Junge Männer in voller Montur, mit kurzgeschnittenem Haar, schmalem Gesicht und entschlossener Miene schoben Gummischlauchboote in die Bucht hinaus. Derselbe Drill, den vor dreißig Jahren der Teenager Rickie Bright tagtäglich auf seinem Heimweg von der Schule beobachtet hatte – wovon Enzo allerdings nichts wissen konnte.
In der Touristeninformation gegenüber dem Revier der Stadtpolizei auf dem Place du 18 Juin besorgte er sich einen Plan und lief durch ein Tor der alten Stadtmauer zum Boulevard du Boramar. Von hier aus bot sich ein prächtiger Ausblick über den Kiesstrand und die Bucht bis zur Tauchschule gegenüber, wo die Boote, für den Winter fest vertäut und abgedeckt, auf der zinnfarbenen Dünung schaukelten.
Am südlichen Ende des Boulevards stand die Église Notre Dame des Anges mit ihrer goldenen Kuppel auf dem Glockenturm. Am nördlichen Ende mündete die Straße auf den Kai, den ein Gemälde von André Derain mit grellbunten Fischerbooten und ihren schrägen Masten und eingerollten Segeln unsterblich gemacht hatte. Ein paar von ihnen waren noch da, um Touristen daran zu erinnern, wie es hier zu Lebzeiten Derains vor fast einhundert Jahren ausgesehen hatte. Collioure war eine kunst- und geschichtsträchtige Stadt: Lange Zeit hatte sie Künstlern aus Spanien und Frankreich, die vor Krieg und Verfolgung flohen, Zuflucht geboten. Ein Ort,
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