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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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an dem Maler ohne einen Pfennig in der Tasche ihre Bilder gegen Kost und Logis verkauft hatten. Verzweifelte Männer, die von ihrer Kunst lebten, und Gastwirte, die sich dank dem späteren Ruhm dieser Männer eine goldene Nase verdienten.
    Enzo wandte sich zunächst nach Süden und bog dann Richtung Norden in den alten Fischerort ab, der sich zur Festung hin den Hang hinaufzog. Die Südseite der Rue Bellevue war von den Ruinen einer alten Wehrmauer eingefasst. Enzo blieb stehen, um durch eine zerbröselnde Schießscharte auf das graugrüne Meer hinunterzublicken, das sich mit weißen Schaumkronen an den schwarzen Felsen brach. Dreistöckige rosa-, creme- und pfirsichfarben gestrichene ehemalige Fischerhäuser beherrschten die Nordseite der steil ansteigenden Straße, bis sie auf der Kuppe direkt am Klippenrand in einer Reihe von Bruchsteinhäusern endete. Rot leuchtender Wein klomm an Rankgerüsten aus rostigem Eisen empor und bot im Sommer gewiss eine schattige Zuflucht vor der südlichen Sonne. Ein Kaktus mit fleischigen Blättern wirkte müde und vergrämt. Ein kopfsteingepflasterter Durchgang führte zu einer Treppe neben einem Bogentor, und Enzo stieg zu dem kleinen Parkplatz hinauf, der den Häusern auf der Klippe vorbehalten war.
    Unter ihm führte das schmale Tor in einen privaten Garten, in dem üppige Wintersträucher blühten und eine Fischskulptur aus Stein wacklig auf einer Mauer thronte. Links führte ein farbig gepflasterter Bereich mit Bäumen und Pflanzen in Terrakottatöpfen zur letzten Tür in der Häuserreihe. Ein alter schmiedeeiserner Nähmaschinentisch stand zusammen mit einem passenden Klappstuhl auf einer winzigen, schattigen Terrasse. An den quadratischen Fenstern waren die blauen Läden geschlossen. Neben der Tür hing eine alte verrostete Schiffsglocke an der Wand, und Enzo zog am Seil. Der klare, durchdringende Klang von Metall auf Metall ertönte in der kühlen Luft, und wenig später hörte Enzo, wie sich im Schloss ein Schlüssel drehte.
    Die Tür öffnete sich in einen langen, schmalen Flur, an dessen Ende Enzo in ein Wohnzimmer mit großen Fenstern zum Meer sah. Aus dem Dämmerlicht blickte ihm eine kleine Frau mit kurzgeschnittenem weißen Haar entgegen. Sie war Ende sechzig oder Anfang siebzig, und für ihr Alter, das nur die braunen Flecken auf der blassen Haut im Gesicht und an den Händen verrieten, hatte sie bemerkenswert wenig Falten. Sie trug eine Strickjacke über einer weißen Bluse und einem karierten Tweedrock, dazu einen kurzen rosafarbenen Seidenschal um den Hals.
    Enzo sagte nichts, und sie sah ihn lange mit so wasserblauen Augen an, dass sie fast schon farblos wirkten. Und dann dämmerte ihr, worum es ging. Sie sackte sichtlich in sich zusammen, ihr Blick schien verschleiert, als litte sie plötzlich am grauen Star.
    «Sie wissen Bescheid, nicht wahr?» Ihre Stimme war so leise, dass sie sich kaum gegen das Seufzen der See fünfzehn Meter unter ihnen Gehör verschaffen konnte. Enzo nickte, und sie sagte: «Ich rechne seit fast vierzig Jahren mit Ihnen.»
    * * *
    Aus einer Kanne mit geschwungenem Schnabel schenkte sie ihnen im Wohnzimmer Tee in Porzellantassen ein. Der Raum mit Meerblick war klein, und die Möbel wirkten darin zu groß. Ein Nussbaumbuffet an einer Wand, eine Anrichte mit Tellerbord an der anderen sowie ein großes, weiches, altes Sofa mit zwei passenden Sesseln und handbestickten Schonern auf den Lehnen. Keine Wand-, keine Stellfläche ohne gerahmte Fotos. Die Dokumentation eines Lebens: ein Junge in sämtlichen Entwicklungsstadien vom Kleinkind zum Teenager mit sechzehn, siebzehn Jahren. Auf den meisten machte er eine finstere Miene, nur eines stach deutlich heraus: Auf seinem Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, und die blonden Locken fielen ihm in die Stirn. Er blickte nicht in die Kamera, sondern auf eine Stelle links davon. Ein ungewöhnlich glücklicher Moment, eingefangen in einem unglücklichen Leben.
    Elizabeth Archangel folgte seinem Blick. «Ja, das unterscheidet sich von allen anderen, nicht wahr? Er hat selten gelächelt und brachte kaum einmal Gefühle zum Ausdruck. Oft habe ich in all den Jahren gedacht, dass er es irgendwie wusste, von Anfang an, und deshalb einen Abscheu gegen mich hegte. Aber natürlich konnte er es nicht wissen. Zucker?»
    Sie hielt ihm die Dose hin, doch Enzo schüttelte den Kopf. «Nein, danke.»
    «Natürlich hat er da nicht mich angelächelt, sondern Domi, seinen Hund. Eigentlich hätte ich keine Haustiere

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