Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
glitzerten die Häuserfronten aus Granit in der untergehenden Sonne, während gegenüber flackernd die Laternen angingen und mit ihrem dürftigen Licht wenig gegen die Dunkelheit ausrichteten.
Anna sagte: «Du darfst Kirstys Worte nicht auf die Goldwaage legen.»
Das brachte Enzo von seinem anderen Gedanken, der wie ein Mühlrad in seinem Kopf kreiste, in die Gegenwart zurück. «Sie scheint darauf versessen, mir weh zu tun», sagte er. «Auszuteilen und mich an einem wunden Punkt zu treffen.»
«Wenn wir selbst mit etwas nicht fertigwerden, lassen wir es eben oft an denen aus, die wir lieben.»
«Ihr ganzes Leben lang hat sie für allen Kummer und alles, was schiefging, mir die Schuld in die Schuhe geschoben. Ich dachte, sie hätte das überwunden.» Er hätte Anna gerne von dem Abend bei Simon erzählt, seinem Herzen Luft gemacht, doch er scheute sich. Als würde es umso realer, wenn er es beim Namen nannte. Dabei wollte er es immer noch nicht glauben. Er konnte nicht ahnen, dass Anna bereits alles wusste, es von Kirsty selbst erfahren hatte. Was für eine Ironie des Schicksals, dass sie das gemeinsame Wissen nicht verband, sondern trennte.
«Du darfst nicht unterschätzen, wie verletzlich sie im Moment ist, Enzo. In Straßburg ist sie knapp dem Tod entronnen, dafür kam ihre beste Freundin um. Sie dachte, ihr Vater müsste bald sterben, und dann wurde er auch noch wegen Mordverdachts verhaftet. Um das Maß voll zu machen, wurde gerade auf ihren Liebhaber geschossen, und sie weiß nicht, ob er es überlebt.» Das war nicht alles, doch wie Enzo mied sie das Thema. «All diese schrecklichen Dinge drehen sich um dich, wem sollte sie also sonst die Schuld dafür geben?»
Enzo blieb stehen und nahm Annas Gesicht in die Hände, blickte in ihre dunklen Augen und küsste sie zärtlich auf die Lippen. «Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte, Anna. Wirklich.»
Sie erwiderte seinen Kuss. «Das beruht auf Gegenseitigkeit.»
«Bitte versprich mir nur eins … Falls ich wieder wegmuss, sorg dafür, dass sie nicht nach Paris fährt.»
Sie lächelte. «Versprochen. Das weiß ich zu verhindern.» Doch dann verdüsterte sich ihr Gesicht wie unter einer Wolke. «Weißt du, wieso er weggefahren ist?»
«Wer?»
«Roger. Wieso er in Wahrheit weggefahren ist?»
Unwillkürlich spannte sich Enzo an. «Er hat gesagt, er hätte wegen der Arbeit zurückgemusst.»
«Er hat sich an mich rangemacht. Es fehlte nicht viel, und der Mistkerl hätte mich vergewaltigt. Wäre ich nicht so sportlich, hätte er es möglicherweise sogar geschafft.»
«Mein Gott! Weiß Kirsty …?»
«Nein, natürlich nicht. Ich hab ihm klargemacht, dass ich es ihr erzählen würde, wenn er nicht augenblicklich seine Sachen packt. Und dass ich es nur für mich behalte, um sie zu schützen, nicht ihn.»
Eine Woge der Erschöpfung überrollte Enzo. Er war nicht sicher, wie weit seine Kräfte noch reichen würden. Der Albtraum wollte kein Ende nehmen, ein Vorfall jagte den anderen. «Sie darf es nie erfahren, Anna. Du darfst es ihr auf keinen Fall erzählen. Falls Raffin überlebt, nehme ich ihn mir selber vor.»
* * *
Als sie zum Haus zurückkamen, war es bereits dunkel. Licht aus der Küche fiel in den Flur. Sophie und Bertrand sahen im Wohnzimmer fern. Ein Mädchen, das nicht singen konnte, und ein Off-Kommentar, in dessen Stimme Enzo den Moderator von Star Academy wiedererkannte. Von Kirsty immer noch kein Lebenszeichen. Die Tür zum Computerzimmer war angelehnt, und ein Lichtspalt drang in einer Zickzacklinie die ersten Stufen der Wendeltreppe hinauf. Nicole rief in die Dunkelheit: «Sind Sie das, Monsieur Mackay?»
«Ja, Nicole.»
«Ich habe Neuigkeiten für Sie.»
Als er ins Computerzimmer kam, drehte sie sich mit einem stolzen strahlenden Lächeln um. Anna lehnte sich an den Türpfosten und hörte zu.
«Was haben Sie rausgefunden?», fragte er.
«Na ja, ist nicht so leicht, online an vertrauliche medizinische Informationen ranzukommen. Also hab ich im Hôpital St. Jean in Perpignan angerufen und denen erzählt, ich würde im Auftrag des Gesundheitsministeriums in Paris an einem Forschungsprojekt mitarbeiten. Ich hab sie gebeten, mir die Liste der Hämophiliepatienten zukommen zu lassen, die in ihrem Departement registriert sind.»
«Und das haben die Ihnen abgekauft?»
«Wieso nicht? Ich meine, wozu sollte sich irgendjemand sonst für so etwas interessieren?» Sie grinste. «Außerdem habe ich vor meinem Anruf ein paar Recherchen
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