Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
gehalten. Das Risiko, einen Kratzer oder Biss abzubekommen, war viel zu groß. Aber für Richard hätte ich alles getan, auch wenn er es nie gewürdigt hat.»
Enzo registrierte, dass sie den Namen des Jungen beibehalten hatte. Seine echte Mutter hatte ihn Rickie genannt. Seine Entführerin zog das förmlichere Richard vor. Und so war er als Richard Archangel aufgewachsen.
«Natürlich hat er mir die Schuld gegeben, als wir den Hund einschläfern lassen mussten. Auch wenn es nicht meinetwegen war. Anfänglich ging es gut, doch dann wurde er plötzlich gegen das Tier allergisch. So schlimm, dass der Arzt es für lebensbedrohlich hielt. Mir blieb keine andere Wahl.» Sie verstummte, während sie noch eine Weile den traurigen Erinnerungen nachhing. «Er hat es mir nie verziehen.»
Enzos Blick wanderte erneut über die Bilderflut, und er empfand nichts als schwelenden Hass auf dieses Kind, das schon damals die Saat der Zerstörung in sich getragen haben musste. Doch er zwang sich, objektiv zu bleiben. «Wieso haben Sie ihn entführt?»
Sie schloss die Augen, und es sah aus, als zitterte ihr Kopf ein wenig. «Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. So sagt man doch, nicht wahr?» Sie schlug die Augen wieder auf. «Ich hatte eine schwere Kindheit, Mister Mackay. Ich konnte nie mit den anderen Kindern spielen. Ich wurde in Watte gepackt und von allem ferngehalten. Sie können sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als am Fenster zu sitzen und zuzuschauen, wie draußen das Leben an einem vorbeigeht. Meine Eltern waren paranoid. Offenbar kam es ihnen nie in den Sinn, dass es ihre Schuld war. Meine Mutter behauptete zeitlebens, sie hätte nicht gewusst, dass sie Überträgerin war, dabei bin ich mir sicher, dass sie es sehr wohl wusste und trotzdem ein Kind haben wollte. Nicht, dass ich ihr deswegen Vorwürfe mache», fügte sie hastig hinzu. «Damals konnte ich es nicht verstehen, aber als ich selbst erwachsen war, begriff ich, was es heißt, sich ein eigenes Kind zu wünschen. Und wenn man weiß, dass man etwas nicht haben kann, dann will man es mehr als irgendetwas anderes auf der Welt.»
Sie nippte an ihrem Tee und blickte über das Wasser, in dem sich der bleigraue Himmel spiegelte. Der Wind wurde stärker, vertrieb den Nebel und bildete weißen Schaum auf dem gekräuselten Meer. «Ich habe nicht die schlimmste Form von Hämophilie. Ich hatte immer eine bescheidene Menge Gerinnungsstoffe im Blut. Und dank der obsessiven Vorsicht meiner Eltern kam ich fast ohne Zwischenfälle durch die Kindheit. Aber vor der Pubertät konnten sie mich nicht beschützen. Da fing der eigentliche Albtraum an. Mit der Menstruation. Es gab Zeiten, in denen sie einfach nicht aufhören wollte. Ich bekam wiederholt Transfusionen, dann gaben sie mir Medikamente, Hormone, um es in den Griff zu bekommen. Auf diese Weise hielten sie mich am Leben, bis 1960 die Antibabypille kam. Ich gehörte zu den allerersten Frauen, die sie nahmen, verschrieben und bezahlt vom guten alten britischen Gesundheitsdienst. Östrogen und Progestin, die meinem Körper weismachten, er sei dauerhaft schwanger, damit er keine Eier mehr heranreifen und meine Gebärmutterschleimhaut intakt ließ und ich nicht blutete. Die Ironie bei der Geschichte ist natürlich, dass ich niemals wirklich schwanger werden konnte. Jedenfalls nur unter allergrößter Lebensgefahr.»
«Also haben Sie einer anderen Frau das Kind weggenommen.»
«O nein, Mister Mackay, so verzweifelt war ich nicht. Da noch nicht. Bevor ich auf diesen Ausweg kam, habe ich etwas viel Schlimmeres getan.»
Enzo runzelte die Stirn. Was konnte schlimmer sein als das? «Ich kann Ihnen nicht folgen.»
«Ich habe mich verliebt. Bin einem Mann begegnet, der mir das Herz gestohlen hat, der mich um den Verstand gebracht hat. Wir haben geheiratet. Ihn trifft bei alledem keine Schuld. Er wusste von Anfang an, dass wir keine Kinder bekommen konnten. Er wusste, dass es jedes Mal gefährlich war, wenn er mit mir schlief, dass er überaus behutsam sein musste, damit ich niemals blutete. Und das war er auch. Er war der einfühlsamste, fürsorglichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Immer war ich diejenige, die alle Vorsicht in den Wind schrieb. Ich hatte ein leidenschaftliches Temperament, wissen Sie? Nach all den Jahren der Entbehrung wollte ich leben, selbst auf die Gefahr hin, dabei zu sterben. Weshalb ich irgendwann die Pille absetzte.»
Sie stieß einen tiefen Seufzer
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