Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
gekommen.»
Es herrschte lange Schweigen, während sie die Nachricht verdauten.
«Und? Wer ist sie dann? Ich meine Anna, oder wie auch immer sie heißt.» Sophie sprach die Frage aus, die ihnen allen auf der Zunge lag.
Kirsty sagte: «Nicole, gib den Namen mal bei Google Bilder ein.»
Nicoles Finger ratterten über die Tastatur, und es erschien ein ganzer Bildschirm mit Fotos. Ein hübsches blondes Mädchen, manchmal in Skiausrüstung, dann in Jeans, gelegentlich im Cocktailkleid bei einer Veranstaltung oder einem Dinner. Immer mit einem Lächeln im Gesicht. Nichts erinnerte an die Anna, mit der sie in den letzten zehn Tagen ihr Leben geteilt hatten.
«Mein Gott!», flüsterte Kirsty. All die Dinge, die sie ihr anvertraut hatte, Geheimnisse, Geschichten. Sie fühlte sich ausgetrickst und betrogen, und ein einziges Wort raste in ihrem Kopf herum: Wozu? Wozu? Wozu die Täuschung, die Lügen? Was sollte das? Wer war sie? Und wo war sie jetzt? Dann fiel es ihr wieder ein. «Wenn es also keiner von euch gewesen ist, kann nur Anna meinen Laptop benutzt haben.»
«Das ist einfach festzustellen», sagte Nicole. «Jeder hinterlässt Spuren.» Sie drehte sich auf dem Stuhl zu Kirstys Laptop und drückte die Leertaste, um den Bildschirmschoner zu verscheuchen. «Darf ich?»
«Nur zu.»
Nicole klickte das Apple-Menü an und scrollte die Anwendungen und Dokumente herunter, die als Letztes benutzt worden waren. «Siehst du da irgendwas, mit dem du nicht in den letzten Tagen gearbeitet hast?»
Kirsty überflog den Bildschirm. In der Liste der Dokumente fiel ihr nichts besonders ins Auge, und so überprüfte sie als Nächstes die Anwendungen. Sie sah ihre Kalender-Software. Textverarbeitung, ihren Internet-Browser, ihre iTunes-Sammlung mit Musik und Videos. Plötzlich pochte ihr Herz schneller. «Mein E-Mail-Programm. Die letzte Mail hab ich vor dem Bombenattentat in Straßburg verschickt.»
Nicole öffnete das Programm. «Dein Posteingang ist ja chaotisch», sagte sie. «Packst du denn nichts in Ordner?»
Kirsty ging die lange Liste an E-Mails durch, die sie empfangen und gelesen, aber im Eingang gelassen hatte. «Nehme ich mir immer vor, aber irgendwie komme ich nie dazu.» Es waren mehrere E-Mails darunter, die in den letzten acht bis zehn Tagen angekommen, aber nie vom Server geholt worden waren, bis derjenige, der ihren Laptop benutzt hatte, ihr E-Mail-Programm geöffnet hatte. «Wieso sollte sie sich für meine Mails interessieren?»
«Vielleicht hat sie sich ja nicht für deine Mails interessiert», sagte Bertrand. «Sieh mal unter Gesendet nach.»
Nicole klickte auf Gesendet und hatte ein leeres Feld vor sich – mit Ausnahme einer einzigen E-Mail. In der Datumsspalte stand Gestern . «Ich habe gestern keine Mail verschickt!», sagte Kirsty. Sie überflog die Zeile. «Oh Gott, sie ist an Dad adressiert! Er wird denken, sie wäre von mir. Was steht drin?»
Nicole öffnete die Nachricht. Nur das Summen der Computer durchdrang die Stille, die im Raum einkehrte, als sie sich im Halbkreis über Nicole beugten, um die Nachricht zu lesen. Kirsty wurde heiß und kalt, als hätte sie plötzlich Fieber. Ihr wurde übel, sie fühlte sich ausgehöhlt, verraten.
Sophies Kopf fuhr zu ihr herum, ein seltsames Leuchten in den Augen. «Stimmt das? In Wahrheit ist Onkel Sy dein Papa?»
Kirsty nickte und konnte die Tränen, die ihr plötzlich die Wangen herunterliefen, nicht zurückhalten. «Ich habe Anna davon erzählt. Sonst hatte ich niemanden. Roger war nicht da, und ich musste es irgendwie loswerden. Ich wollte es Dad sowieso sagen.»
«Nur dass sie dir zuvorgekommen ist», sagte Bertrand.
«Du kannst nicht mehr ‹Dad› zu ihm sagen.» Der Vorwurf in Sophies Ton war nicht zu überhören. Seit Kirsty auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie ihn mit ihr teilen müssen. Jetzt nicht mehr.
Kirsty wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Und ob ich das kann. Weil er das ist. Die Biologie spielt keine Rolle. Er ist mein Dad und wird es für immer bleiben.»
Plötzlich fragte Nicole: «Wie spät ist es?»
Bertrand sah auf die Uhr. «Halb neun.»
«Ruf ihn an! Ruf ihn auf dem Handy an!»
Bertrand klappte sein Handy auf und suchte Enzos gespeicherte Nummer heraus. Angespannt horchte er auf das mehrfache Klingeln, bevor ihm eine automatische Ansage mitteilte, der angerufene Teilnehmer sei im Augenblick nicht erreichbar. Er hinterließ trotzdem eine Nachricht, wenn auch eher in der Hoffnung als der Annahme, dass Enzo
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