Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
in den nächsten dreißig Minuten an sein Handy gehen würde.
Sophie geriet in Panik. «Mist! Schaffen wir es in einer halben Stunde nach Le Lioran? Er glaubt, er würde sich um neun mit Kirsty treffen, aber das ist eine Falle! Kann gar nicht anders sein.»
Kapitel dreiundfünfzig
Als er in den kleinen Skiort am Fuß des Plomb du Cantal einbog, bestürmten ihn seine Ängste und Zweifel erneut, und der Optimismus, den er auf einer Wegstrecke von annähernd fünfhundert Kilometern so mühsam aufgebaut hatte, verflüchtigte sich innerhalb von Sekunden.
Der Parkplatz des Wintersportgebiets erstreckte sich über drei Ebenen, doch unter den Natriumdampflampen, durch deren gelbe Lichtkegel der Schneeregen peitschte, stand nur eine Handvoll Autos. In den dunklen Rechtecken der Apartmentblocks und den dreieckigen Silhouetten der Chalets waren nur wenige Fenster erleuchtet, und durch die Glastür des Hotels sah Enzo im Foyer keine Menschenseele. Es waren nur noch wenige Tage bis zur Eröffnung der Skisaison am ersten Dezemberwochenende, dann wäre der Ort nicht wiederzuerkennen. Bis dahin hätten die Niederschläge, die jetzt hier unten als Schneeregen fielen, die oberen Hänge in eine dicke, skigeeignete Schneedecke gehüllt. Dann wären das Hotel und die meisten Ferienwohnungen ausgebucht und die Parkplätze bis auf die letzte Lücke besetzt. Vorerst jedoch kam er in eine Geisterstadt.
Auch wenn er auf der Digitalanzeige seines Leihwagens gesehen hatte, wie die Außentemperatur stetig sank, war er auf den eisigen Wind, der ihm ins Gesicht blies, als er die Fahrertür öffnete, nicht gefasst. Die Böen trieben die gefühlte Temperatur deutlich unter null. Er nahm seine Jacke vom Rücksitz, knöpfte sie gegen den quer treibenden Schneeregen bis oben zu, schlug den Kragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. Mit gesenktem Kopf stapfte er in der Dunkelheit eine Eisengittertreppe hinauf zur nächsten Ebene.
Das Téléphérique -Gebäude erhob sich vor ihm in der Dunkelheit am äußersten Rand des Skiorts, und er dachte nur: Was für ein verrückter Treffpunkt! Wieso nicht in der Bar des Hotels? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären sie auch dort ungestört gewesen.
Ringsum drängte sich dichter Kiefernwald. Er lief auf dem Asphalt um die Ecke des Gebäudes zu einer rot gestrichenen Metalltreppe. Sie führte über fünf Absätze im Zickzack zum Kabineneinstieg hinauf, wo die zwei Seilbahngondeln einträchtig nebeneinanderhingen.
Enzo stieg die Stufen hoch und sprang über die Barriere vor dem ersten Treppenabsatz. Das Scheppern der Metallkonstruktion, an der die Böen rüttelten, übertönte das Brausen des Windes. Sein nasses Gesicht brannte wie unter Nadelstichen. Schon jetzt hatte er kalte Hände und Füße. Seine Jacke war durchtränkt, und er merkte, wie ihm die Kälte in die Knochen kroch. Das hier war heller Wahnsinn!
Er eilte die letzten Treppenwindungen zur E-förmigen Andockstelle hinauf und sah, dass in der vorderen Gondel Licht brannte und die Türen offen standen. Er blickte sich in alle Richtungen nach Kirsty um, doch sie war nirgends zu sehen. Er rief ihren Namen, und der Wind schien die Silben von seinen Lippen zu reißen und in die Dunkelheit zu schleudern. Es kam keine Antwort.
Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun, und zum ersten Mal fragte er sich, wie sie wohl hierhergekommen war. Vielleicht hatte Anna ihr den Wagen geliehen. Wäre ihm der Gedanke früher gekommen, hätte er auf dem Parkplatz danach gesucht.
Er rief noch einmal: «Kirsty!», und lief an der zweiten Gondel vorbei. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Er kehrte zurück und blickte in die vordere Kabine. Leer. Er trat ein, um sich für einen Moment vor dem eisigen Wind zu schützen, und sah, dass die Tür zum Bedienfeld an der gegenüberliegenden Wand geöffnet war. Unter einem Quadrat mit leuchtenden Knöpfen hing ein Telefonhörer auf der Gabel, und ein weißes Blatt Papier, das mit Klebeband am Griff befestigt war, flatterte im Durchzug. Enzo ging hinüber und riss das Blatt ab. Es standen nur drei Worte darauf: Ruf mich an. Er kannte die Handschrift nicht, doch da es Druckbuchstaben waren, konnte er nicht sagen, ob sie von Kirsty stammten oder nicht.
Er starrte verständnislos auf das Blatt in seiner Hand. Hier stimmte etwas nicht. Wieso sollte Kirsty sich an einem solchen Ort mit ihm treffen wollen? Wieso sollte sie ihm in einer leeren Seilbahngondel eine so rätselhafte, knappe Botschaft an einen
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