Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
hinaus und über das klirrende Eisengitter, unter dem der Abgrund klaffte. Jede Sekunde gefasst auf die Schüsse oder die Schläge, die nicht lange auf sich warten lassen würden. Er stolperte die Treppe hoch, stürzte durch das offene Tor und flüchtete ins Dunkel der angrenzenden Halle. Dort fand er eine Wand, kauerte sich daran und stützte sich mit den Händen auf den Boden. Eher aus Angst als Erschöpfung bekam er kaum Luft. Trotz des Windes, der durch jede Öffnung und jede Ritze pfiff, hörte er sein eigenes Keuchen.
Er brauchte ein paar Minuten, bis sich seine Augen an das bisschen Licht gewöhnt hatten, das von der fernen Gondel einsickerte. Es spiegelte sich matt in den Wasserlachen auf dem betonierten Boden. Das Wellblechdach über ihm donnerte im Wind, und hinter einer Werbung für Stella Artois sah er den Durchgang, der auf den Berg hinausführte. Auch wenn er nicht wusste, wieso, drängte es ihn instinktiv in diese Richtung. Nichts wie weg hier, raus aus diesem Betongefängnis, in das er gelockt worden war, in die Nacht hinaus.
«Was willst du von mir?», brüllte er, so laut er konnte, mit einer Mischung aus Wut, Angst und purer Verzweiflung. Doch nur der Wind gab Antwort. Enzo rappelte sich hoch, rannte zur Tür, knallte mit den Händen den waagerechten Notöffnungsbügel herunter und stürzte ins Freie.
Der Wind toste so heftig, dass er ihn wie ein Stoß vor die Brust traf. Schneeflocken wirbelten wie verrückte Derwische um ihn herum. Ein Bewegungsmelder schaltete das Außenlicht an, in dem der verschneite Aufstieg zum Gipfel zu erkennen war. Etwas abseits versank ein Funkmast im wilden Schneegestöber, und Enzo sah mit einem Mal, was für ein Wahnsinn das ganze Unternehmen war. Er würde hier draußen keine zehn Minuten überleben.
Er drehte sich um und erstarrte. Ein Schatten stand in der Tür und schnitt ihm den Rückweg ab. Eine große Gestalt in einem dunklen Parka, Kapuze auf dem Kopf. Sie hob eine Hand, um sich die Kapuze herunterzuziehen, und Enzo erkannte Yves Labrousse. Der jüngere Mann grinste. «Sie hat gesagt, du würdest kommen», rief er laut, um das Tosen zu übertönen, und Enzo fragte sich, wie er das meinte. War von Kirsty die Rede?
«Was hast du mit ihr gemacht?»
Labrousse schien amüsiert. «Ich hab gar nichts mit ihr gemacht.» Dann hob er die rechte Hand und richtete eine Pistole direkt auf Enzos Brust. «Du bist mir so was von auf den Sack gegangen, ich kann dir gar nicht sagen, wie.»
«Ich weiß alles über dich», brüllte Enzo zurück. «Deine ganze Geschichte. Deine Entführung aus Cadaqués. Wie du dich als dein Bruder ausgegeben hast. Zur Fremdenlegion gegangen bist. Ich weiß auch von Philippe Ransou und wie ihr euch kennengelernt habt.»
«Schön, das nimmst du alles mit ins Grab. Nur ein bisschen früher, als es dir Ransou vorausgesagt hat.»
«Nein.» Enzo schüttelte energisch den Kopf. «Du bist fertig, Labrousse. Oder Archangel. Oder Bright. Oder wie auch immer du dich derzeit nennst. Meinst du im Ernst, ich käme hierher, ohne mein Wissen vorher weitergegeben zu haben? Meinst du, ich hätte nicht geahnt, dass du immer noch hinter mir her bist? Ich hab mir gestern die Nacht um die Ohren geschlagen und deine ganze verdammte Geschichte aufgeschrieben, und heute Morgen habe ich sie auf meinen Blog hochgeladen. Ist jetzt alles im Internet nachzulesen. Egal, was du mit mir vorhast, für dich ist es aus.»
Labrousse funkelte ihn mit hasserfüllten blauen Augen an. «Du Scheißkerl!» Er kam einen Schritt auf Enzo zu und rutschte mit dem Fuß aus. Loses Geröll unter nassem Schnee. Er stolperte und wäre um ein Haar gestürzt. Enzo wirbelte herum und rannte einfach los. Im selben Moment erlosch das Licht der Gipfelstation, und die Bergspitze war mit einem Schlag in Dunkel getaucht.
Enzo spürte den Schnee im Gesicht. Er stolperte und schlitterte, während er blindlings in die Nacht hinauslief. Hinter ihm rief Labrousse seinen Namen, eine Stimme, die der Wind wegfegte. Der Hang wurde steiler, je höher er kam. Seine Beine wurden schwer wie Blei, er hörte sein eigenes lautes Keuchen, als er versuchte, mehr Luft in die Lungen zu bekommen. Doch offenbar hatte sich alles gegen ihn verschworen: das Wetter, der Sauerstoffmangel, sein Alter. Er hatte das Gefühl, als watete er durch Sirup oder als kämpfte er sich im Zeitlupentempo durch einen Hurrikan.
Bis ihm irgendwann die Beine einknickten und er vollkommen erschöpft auf die Knie sackte. Er fiel bäuchlings
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