Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
aus und merkte, wie ihm der Alkohol sofort zu Kopf stieg. Seit dem Frühstück hatte er nichts gegessen. Er winkte dem Barkeeper, noch einmal nachzufüllen.
«Setzen Sie alles auf meine Zimmerrechnung», bat sie den jungen Mann. Sie nippte an ihrem Champagner und sah Enzo an. «Enzo – Kurzform für Lorenzo, richtig? Aber Sie klingen nicht wie ein Italiener.»
«Schotte.»
«Und was führt Sie nach Straßburg?»
«Ich dachte, Sie wollten das Reden übernehmen.»
«Na ja, ich würde Ihnen erzählen, was mich hierherführt, aber das wird Sie kaum interessieren.»
«Finden Sie’s raus.»
«Meine Eltern», sagte sie und schürzte die Lippen zu einem süßsäuerlichen Lächeln. «Alt und gebrechlich und nichts als Klagen darüber, dass ihre Tochter sie nicht oft genug besuchen kommt.»
«Und wieso?»
«Weil ich nie hier bin.»
«In Straßburg oder in Frankreich?»
«Sowohl als auch. Ich bin Skilehrerin und lebe im Winter in der Schweiz. Im Sommer bringe ich den Urlaubern in der Karibik Tauchen bei. So halte ich mich gleichzeitig für die Wintermonate fit.»
Trotz der düsteren Gedanken, die in seinem Kopf kaum Platz für anderes ließen, weckte die Frau Enzos Interesse. Brachte ihn auf andere Gedanken. «Wie wird man Skilehrerin?»
«Wenn man an der Spitze nicht mehr mithalten kann, sind die beruflichen Möglichkeiten begrenzt.»
«Sie waren Profi?»
«Für Frankreich hab ich zwei Mal an der Olympiade teilgenommen. Hab zwar keine Medaillen gewonnen, aber immerhin war ich unter den ersten zehn. Das Problem ist, dass der Körper nachlässt, wenn der Kopf gerade so richtig fit ist. Das übliche Paradox, dem sich jeder Athlet irgendwann gegenübersieht. In der Jugend ist das Fleisch willig, aber es fehlt die Erfahrung. Wenn man dann die Erfahrung hat, spielt das Fleisch nicht mehr mit. Et voilà. Wer sonst nichts kann, wird Lehrer.»
«Und der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.»
Sie lächelte ihn nachsichtig an. «Wir fangen jetzt aber nicht von vorne an, oder?»
«Wenn Sie keine Lust haben, nicht.» Er trank noch einen Schluck Whisky. «Und wohin geht’s als Nächstes? In die Schweiz?»
«Zu früh. Die Saison hat noch nicht richtig angefangen, und ich bin erst in einem Monat unter Vertrag. Ich will für ein paar Wochen in die Auvergne.»
«Ziemlich trist um diese Jahreszeit.»
«Genau das mag ich daran. Ich wohne im Ferienhaus von Freunden aus England. Es liegt in der Nähe eines winzigen Dorfs, mitten in den Bergen, östlich von Aurillac. Hilft mir, den Verstand nicht zu verlieren.»
«Dann wollen Sie ganz allein da rauf?»
Sie zuckte die Achseln. «Wenn man niemanden hat, mit dem man es teilen kann …» Sie nippte an ihrem Champagner und starrte auf die perlenden Fäden aus Luftbläschen, die in dem Glas an die Oberfläche stiegen. «Schon seltsam, ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal mit vierzig noch allein bin.»
«Ich lebe seit zwanzig Jahren allein. Man gewöhnt sich dran.»
Sie sah ihn neugierig an und legte sacht die Hand auf seine. «Kein Mensch sollte allein leben müssen. Niemals. Das Leben ist zu kurz dafür.»
Er drehte sich zu ihr um und sah ihren düsteren, merkwürdig eindringlichen Blick. Eine Melancholie, die ihn faszinierte. Und plötzlich hatte er dieses Kribbeln im Bauch. Wenn du wüsstest , wie kurz .
* * *
Die Lichter von La Petite France spiegelten sich im Wasser und warfen durch die Bogenfenster flackernde, amorphe Bilder an die gegenüberliegende Wand in Enzos Zimmer. In ihrem monochromen Licht sah er zu, wie sich Anna das T-Shirt, das sie unter dem Lederblouson trug, über den Kopf zog und sich aus ihrer engen Jeans schälte. Bis sie, nur mit schwarzem BH und passendem Slip bekleidet, groß und fast knabenhaft schlank im Zimmer stand. Ihre Haut war makellos glatt und gebräunt. Mit der natürlichen Grazie einer Sportlerin trat sie ans Bett, wo sie den BH auf den Boden fallen ließ und zwei kleine feste Brüste mit dunklen Brustwarzen enthüllte. Sie schlüpfte aus dem Slip, und ein schmaler, sauber gewachster Schamhaarstreifen kam zum Vorschein. Dann öffnete sie die Spange an ihrem Hinterkopf und ließ das volle Haar über die breiten Schultern fallen.
In seinen kühnsten Träumen hätte er sich so etwas nicht auszumalen gewagt, als er gestern in Cahors in den Zug gestiegen war. Und doch hatte er das Gefühl, dass es sich gut und richtig anfühlte. Kurz vor seinem Tod mit einer fremden Frau zu schlafen – keine Versprechungen,
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