Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
von dem man den Mühlteich überblickte, sickerte das graue Licht eines trüben Morgens. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass jemand an der Zimmertür klopfte. Auch an Anna erinnerte er sich, und wie er am Abend zuvor mit ihr geschlafen hatte. Er drehte sich zu ihr um – doch das Bett war leer. Kalt. Offenbar war sie längst gegangen. War es ein Traum gewesen? Vielleicht hatte er sich das Ganze nur eingebildet.
Während er aufstand und sich einen Bademantel überzog, kehrte qualvoll die Erinnerung an alles zurück. Der dicke, rote Teppich fühlte sich weich unter den Füßen an, als er zur Tür ging und öffnete.
Raffin hatte die Hand erhoben, um erneut zu klopfen. Neben ihm stand Kirsty.
«Um Himmels willen, Dad, wieso machst du nicht auf? Wir dachten schon, dir wäre was passiert.» Sie drängte an dem Journalisten vorbei ins Zimmer. Raffin folgte ihr und zog die Tür hinter sich zu.
Enzo war immer noch nicht ganz da. «Ich … ich hab geschlafen.» Er sah Raffin an. «Seit wann bist du denn hier?»
«Ich bin um sechs mit dem TGV in Paris losgefahren.» Man merkte ihm nicht an, dass er früh aufgestanden war. Wie immer bot er einen makellosen Anblick: glattrasiert, glänzendes braunes Haar, ein schickes Leinenjackett mit affektiert aufgestelltem Kragen. Mit seinen hellgrünen Augen sah er Enzo herausfordernd an. «Für jemanden, dessen Tochter gerade einem Mordanschlag entkommen ist, hast du einen ziemlich tiefen Schlaf.»
Enzo wollte auf die Uhr schauen, doch sein Blick traf nur sein nacktes Handgelenk. «Wie spät ist es denn?»
«Fast neun.» Kirsty bückte sich und hob Annas knappen schwarzen BH auf. Ungläubig sah sie ihren Vater an. «Was ist das denn?»
Raffin konnte sich ein Feixen nicht verkneifen. «Sieht jedenfalls nicht so aus, als würde unser Besuch deinem Vater passen.»
Bevor Enzo irgendetwas erwidern konnte, ging die Badezimmertür auf, und Anna trat ins Zimmer, bekleidet mit einem lose übergeworfenen Bademantel und einem ums nasse Haar geschlungenen Handtuch. Erschrocken zuckte sie zusammen. «Oh, tut mir leid, ich hab nicht mitbekommen, dass noch jemand da ist.»
Enzo spähte peinlich berührt zu seiner Tochter hinüber und sah, wie ihre Augen vor Zorn und Verlegenheit funkelten. Geistesgegenwärtig entschärfte Raffin die Situation: «Wir wollten gerade gehen.» Er packte Kirsty am Arm und zog sie entschlossen hinaus in den Flur. Bevor er die Tür zumachte, warf er Enzo einen letzten Blick zu, in dem sich Tadel und Bewunderung die Waage hielten.
Als sie alleine waren, drehte sich Enzo zu Anna um. «Ich dachte, du wärst schon gegangen.»
«Wer waren die beiden?»
«Das Mädchen ist meine Tochter. Kirsty. Raffin ist ihr Freund.»
Etwas in seinem Ton schien sie stutzig zu machen. «Klingt, als hättest du was dagegen.» Sie sammelte ihre Kleider auf.
«Du hast ein feines Gehör.»
«Und ist ihre Mutter derselben Meinung?»
«Keine Ahnung. Ich hab mich vor zwanzig Jahren von ihr scheiden lassen. Und Kirsty hat mir bis heute nicht verziehen.»
«Ach so.»
«Wie, ach so?»
«Nichts weiter.» Sie drückte sich das Kleiderbündel an die Brust. «Mir war es nur lieber, als wir nicht so viel voneinander wussten. Und ganz bestimmt will ich nicht zwischen einem Vater und seiner Tochter stehen.» Sie sah ihn mit ihrem traurigen Lächeln an. «Ich denke, ich geh dann mal besser.» Sie durchquerte das Zimmer und gab ihm einen zarten Kuss auf den Mund. «Es war schön mit dir gestern Nacht.» Dann zögerte sie. «Eine Sache noch … Normalerweise schlafe ich nicht mit Fremden.» Einen Moment lang schloss sie die Augen, als suchte sie nach einer Erklärung. «Mir ging es gestern auch ziemlich mies. Vielleicht hat uns das Schicksal zusammengebracht, um uns eine Nacht lang ein wenig zu trösten.»
Er nickte. «Wer weiß.»
Lange sah sie ihn mit forschendem Blick an. Was auch immer an ihrem Unglück schuld war, verlieh ihrem Gesicht eine Art gequälte Schönheit. Sie ging zur Kommode hinüber, legte ihre Sachen auf den Stuhl und nahm einen Kugelschreiber vom Schreibtisch. Dann drehte sie einen Block mit Hotelbriefpapier zu sich herum und notierte darauf eine Adresse und Telefonnummer. Sie riss das Blatt ab und hielt es Enzo hin. «Da bin ich in den nächsten Wochen. Falls du dich mal einsam fühlst.»
Er nahm es geistesabwesend, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche seines Bademantels. «Danke», sagte er, wohl wissend, dass er sie nie wiedersehen würde.
Sie nahm ihre Sachen
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