Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
einmal zwanzig fürs Frühstück. Über eine Kreditkartenrechnung von mehr als sechshundert Euro wäre Raffin gewiss alles andere als erfreut.
Ihre Zimmer befanden sich ganz oben unter dem Dach, mit Blick auf das Wasser, das unter ihnen von steilen Mauern eingefasst war, die raffiniert mit verdeckten Scheinwerfern ins rechte Licht gerückt wurden. Das original erhaltene Tragbalkenwerk war weiß gestrichen. Enzo trug Kirstys Tasche in ihr Zimmer, und sie zogen die klammen Mäntel aus. Sie ging ins Badezimmer, um Handtücher zu holen, und warf ihm eins für seine nassen Haare zu.
Mutlos und erschöpft hockte er sich auf die Gepäckablage am Fußende des Bettes, nahm das Gummiband aus dem Haar und frottierte sich den feuchten Kopf. Seine Haut prickelte von der Wärme des Hotelzimmers. Als er aufsah, blickte er in Kirstys gerötetes Gesicht und ihre verquollenen Augen. Er stand auf. «Komm mal her.»
Sie legte das Handtuch weg und ließ sich von ihm in die Arme schließen.
«Das wird schon wieder.» Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie das Beste aus der knappen Zeit machen sollten, die sie noch miteinander hatten. Doch er brachte es nicht über sich, ihr zu eröffnen, dass er bald sterben würde. «Kannst du mir endlich vergeben?», flüsterte er.
Augenblicklich trat sie zurück und sah ihn mit einem seltsam verletzten Blick an. «Nein», antwortete sie schlicht. «Und ich weiß nicht, ob mir das je gelingt. Du hast mir die halbe Kindheit gestohlen, die gibt mir keiner zurück.»
Er hätte ihr gerne gesagt, dass es so nicht stimmte, doch es schien zwecklos. Linda hatte Kirsty als Waffe gegen ihn benutzt und dabei ihr eigenes Kind vergiftet. Ihm fiel nichts Besseres ein, als ihr dasselbe zu sagen wie schon tausendmal zuvor: «Es tut mir leid. Wenn ich die Zeit zurückstellen könnte …»
«Dann tätest du was? Dann würdest du uns nicht wegen deiner französischen Geliebten verlassen?»
«Ich habe dich nie verlassen. Hätte ich dich mitnehmen können, hätte ich es getan.» Doch eines wusste er mit Bestimmtheit: Selbst wenn er die Zeit hätte zurückdrehen können, hätte er seine Frau wegen Pascale verlassen. Und als er seiner Tochter in die Augen sah, gab es keinen Zweifel, dass auch sie es wusste.
«Als du wieder in mein Leben getreten bist», sagte sie, «hast du die alten Wunden aufgerissen. Und ich musste mich der Tatsache stellen, dass es so wehtat, weil ich dich geliebt habe. Bis heute. Selbst wenn ich dir nicht vergeben kann.»
Das schrille Klingeln seines Handys ließ sie beide zusammenfahren. Die Gefühle zwischen ihnen verflüchtigten sich wie Rauch im Wind. Er sah aufs Display. Es war Sophie – welche Ironie! Sie war auf Kirsty und den Platz, den ihre Halbschwester im Herzen ihres Vaters einnahm, eifersüchtig. Vielleicht hätte es ihr eine gewisse Genugtuung bereitet, hätte sie gewusst, dass sie in einen so innigen Moment zwischen den beiden hineinplatzte. Doch er verwarf den Gedanken sofort, als er ihren ernsten, besorgten Ton am Telefon hörte.
«Papa, es ist etwas Furchtbares passiert!»
«Was ist los, Sophie?» Er sah zu Kirsty auf, die ihn mit dunklen Augen wie die ihrer Mutter beobachtete.
«Ein Feuer. Vorhin. Bertrands Fitnesscenter ist vollständig abgebrannt.»
Enzo schloss die Augen und malte sich aus, wie Bertrand zumute sein musste. Ursprünglich hatte er etwas gegen den Freund seiner jüngeren Tochter gehabt. Er war sieben Jahre älter als sie, hatte Piercings und Ohrringe und gegeltes Haar. Doch mit der Zeit hatte der junge Mann ihm Respekt abgenötigt, und Enzo sah ihn mit ganz anderen Augen. Er wusste, wie viel dem Jungen das Fitnesscenter bedeutete. Er hatte eine Zeitlang zwei Jobs auf einmal schultern müssen, um das Darlehen abzuzahlen, mit dessen Hilfe er aus der alten Spiegelfabrik schließlich ein erfolgreiches Sportstudio gemacht hatte. Es erforderte viel Fleiß und Zielstrebigkeit, am renommierten Centre Éducation Populaire et de Sports in Toulouse seinen Abschluss zu machen – und dabei auch noch seine verwitwete Mutter zu unterstützen.
«Ihm ist hoffentlich nichts zugestoßen?»
«Etwa eine Stunde bevor es passiert ist, hat er Feierabend gemacht. Wir haben die Feuerwehrsirenen gehört, bevor wir die Flammen am Himmel gesehen haben. Dann rief jemand an, um ihm zu sagen, dass es das Fitnesscenter ist.» Er hörte, wie sie schlucken musste. «Wir standen auf dem Pont de Cabessut und haben zugesehen, wie es heruntergebrannt ist.»
«Aber er ist
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