Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
und ging zur Tür. Ein flüchtiger Blick über die Schulter, und sie war verschwunden.
Kapitel dreizehn
Der Speisesaal hinter den langen netzartigen Vorhängen war eine Hommage an die Farben und den Stil der sechziger Jahre. Rote Lederstühle, schwarzes Stahlrohr, Resopalfurnier mit Holzmaserimitat, dazu ein grauer Berberteppich. Die Hotelgäste tunkten ihre Croissants in dampfenden schwarzen Kaffee und überhörten geflissentlich, wie Kirsty gegen ihren Vater wetterte.
Ihr Ton war schrill und vorwurfsvoll, während sich Raffin, der Szenen hasste, vergeblich bemühte, sie zu beschwichtigen.
«Vor wenigen Tagen hat jemand versucht, mich umzubringen. Ich werde weiterhin von dem Mann verfolgt, der mit einiger Sicherheit dahintersteckt. Der höchstwahrscheinlich auch in meine Wohnung eingebrochen ist und uns eine Bande Jugendlicher auf den Hals gehetzt hat, um uns im Park auszurauben. Und der es wohl auch irgendwie geschafft hat, dass alle unsere Kreditkarten gesperrt sind …» Sie holte tief Luft für das große Finale. «Und dir fällt nichts Besseres ein, als in einer Bar eine Frau aufzureißen? So wie immer deinem Schwanz zu folgen?»
Raffin war schockiert. «Kirsty, jetzt reicht’s!» Er warf einen peinlich berührten Blick über die Schulter und stellte fest, dass einige Köpfe zu ihnen herumfuhren.
Doch Kirsty war an einem Punkt angelangt, an dem ihr alles egal war. Das also war der Mann, in den sie ihr Vertrauen gesetzt hatte. Der Mann, den sie zu Hilfe geholt hatte, als für sie die Welt zusammenbrach. Und während sie sich im Zimmer nebenan in den Schlaf weinte, vögelte ihr Vater eine Frau, die er gerade erst in einer Bar kennengelernt hatte. Das war unverzeihlich.
Enzo sah die tiefe Verletzung in den Augen seiner Tochter, die feste Überzeugung, dass er sie im Stich gelassen hatte. Und vielleicht hatte er das ja auch. Vielleicht von Anfang an. Doch wie ein starrsinniges Kind sah sie nur die eigenen Gefühle und übte mit denen anderer keinerlei Nachsicht. Er schüttelte den Kopf. «Das verstehst du nicht.»
«Nein, allerdings nicht. Und ich will es auch gar nicht verstehen.»
«Nun ja, vielleicht liegt genau da das Problem. Du kennst mich nicht. Du hast auch nie versucht, mich kennenzulernen.»
«Ach ja? Aber du kennst mich, oder wie? Die meiste Zeit meines Lebens warst du doch gar nicht da!» Sie war kurz davor, vollends die Beherrschung zu verlieren.
Enzo starrte sie an. In seinem Kopf brauten sich Schuldgefühle, Wut und Frustration zusammen. «Du hast zwanzig Jahre damit zugebracht, mir Vorwürfe zu machen. Wegen all der kleinen Dinge, die dir nicht passten. An jedem Unglück, das dir widerfahren ist, war ich schuld, niemals du oder deine Mutter. Immer nur ich. Dein ganzes Leben besteht nur daraus, mir alles anzulasten, was nicht so läuft, wie du es gerne hättest. Aber bald wirst du dir wohl oder übel jemand anders suchen müssen, dem du alles in die Schuhe schieben kannst. Und vielleicht ist das ganz gut so, denn wenn ich nicht mehr da bin, hast du keinen Prügelknaben mehr, auf den du deine eigenen Unzulänglichkeiten schieben kannst. Dann übernimmst du vielleicht endlich selbst die Verantwortung für dein Leben.»
Er knüllte seine Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch. Den Tränen nahe, riss er den Vorhang auf und durchquerte mit wenigen Schritten das Marmorfoyer.
Kirsty war so verblüfft, dass sie keinen Ton herausbrachte. Es war das erste Mal, dass sich die Wut ihres Vaters gegen sie richtete. Noch nie hatte er ihr gezeigt, wie verletzt und frustriert er war. Und so brauchte sie eine Weile, bis sie das volle Ausmaß seiner Worte begriff. Sie suchte Halt in Raffins grünen Augen, las darin jedoch nur ratlose Verlegenheit. Seine Wangen glühten. «Wie hat er das gemeint?», fragte sie.
Raffin schüttelte den Kopf. «Ich hab nicht den blassesten Schimmer.»
Kirsty sprang so schnell vom Tisch auf, dass sie ihn beinahe umgestoßen hätte, und jagte ihrem Vater hinterher.
Als sie den Fahrstuhl erreichte, schlossen sich gerade die Türen. Sie bekam gerade noch eine Hand in den Spalt, sodass sie wieder auseinanderglitten. Vor ihr stand Enzo im kalten künstlichen Licht der Fahrstuhlkabine. Mit seinen Augenringen wirkte er müde und erschöpft – ein Schatten des Mannes, der er sonst war. Und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass er alterte, gebrechlich wurde und nicht mehr der große, vor jugendlicher Kraft strotzende Mann war, den sie seit ihrer frühesten Kindheit in ihm
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