Der Mond im See
Polizisten zurück und hielt sie fest.
Dabei redete, schrie und brüllte ich auch, versuchte mich verständlich zu machen: Entführtes Kind, Kidnapping, Sie müssen es doch in der Zeitung gelesen haben – so fort, ein südländischer Aufstand, wie aus einem italienischen Film, immer mehr Leute, mehr Geschrei, und an meiner Hand zerrend die wütende Dorette.
Schließlich gelang es dem Polizisten, so etwas Ähnliches wie Ruhe herzustellen. Ich fand jemanden, der meine Worte ins Italienische übersetzte. Der Polizist blickte zweifelnd von mir zu Dorette. Plötzlich war es still um uns geworden.
Das entführte Kind? René Thorez? Ja, er wußte davon. Er hatte es gehört.
Ich schüttelte Dorette. »Wo ist René? Wo ist er? Sagen Sie es mir sofort!«
Sie hatte sich gefaßt, richtete sich gerade auf, ihre schwarzen Augen blitzten.
»Che cosa è? Was Sie wollen? Ich nicht kennen einen René! Prego, Signore …«, sie wandte sich an den Polizisten, sprach in raschem Italienisch auf ihn ein, er wurde zweifelnd, sah mich finster an, sie schluchzte gekonnt auf, eine schöne Frau, die man beleidigt und mißhandelt hatte.
»Wo zum Teufel ist René?« schrie ich und war nahe daran, sie zu erwürgen. Der Polizist sah es mir an, packte mich energisch am Arm.
Und wieder ging das Stimmengewirr um uns los, jetzt angeführt von Dorette, die viel und schnell redete und dabei den armen Polizeimann mit ihren schwarzen Augen verschlang. Der kam endlich zu dem Entschluß, zu dem alle Polizisten auf der ganzen Welt gekommen wären: Wir sollten ihn allesamt zur Wache begleiten. Dort würde man den Fall klären.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, schrie ich. »Das Kind ist in Lebensgefahr.« Denn eins wußte ich jetzt, wo Dorette war, würde auch René sein. Wenn er noch lebte …
Aber die Polizei, die sich inzwischen auf zwei Mann vermehrt hatte, bestand auf dem Gang zur Wache.
Mutlos wandte ich mich ab. Plötzlich fühlte ich mich am Ärmel gezupft. Ein halbwüchsiger Zeitungsjunge, dem ich gerade vorhin im Café eine Zürcher Zeitung abgekauft hatte, flüsterte aufgeregt auf mich ein. »Signore, Signore! Ich kenne die Signora. Sie stammt aus Cemedo. Genau wie ich. Hinten in den Centovalli. Ich kenne sie. Und es war ein kleiner Junge im Auto. Meine Mama hat es gesehen.«
Beide Polizisten waren mit Dorette beschäftigt, sie klagte und spielte die verfolgte Unschuld, alle Leute betrachteten zur Zeit ihr blutendes Knie, das sie sich bei dem Sturz verletzt hatte. Sie hob den Rock ihres weißen Kleides sehr hoch und zeigte wehklagend ihre Wunde.
Das war der Moment.
»Komm«, sagte ich zu dem Jungen. »Komm schnell!« Ich packte ihn am Arm, duckte mich seitwärts hinter einer Säule von Arkaden, und dann liefen wir beide, so schnell wir konnten, mitten im Verkehr über den Piazza Grande. Er warf mitten auf der Straße seinen Zeitungspacken weg. Plötzlich war auch Amigo wieder da, er sprang neben mir her, er wußte genau, wohin es ging. Zu meinem Wagen, der dort drüben parkte.
»Los«, rief ich, »schnell!« Wir drei stürzten hinein, ich sah die Polizei über den Platz gelaufen kamen, dachte: Sie haben Dorette losgelassen, sie wird entkommen. Aber das war im Moment nicht wichtig. Jetzt kam es darauf an, schleunigst dahin zu kommen, wo die Mama von meinem neuen Freund hier einen kleinen Jungen im Wagen gesehen hatte.
Wir saßen alle drei auf dem Vordersitz und fuhren an, als der erste Polizist den Platz erreichte. Ich kurvte elegant zu ihm, rief: »Halten Sie die Frau fest! Sie hat ein Kind entführt. Wir wollen sehen, ob es noch zu retten ist. Kommen Sie mir schnell nach.« Und dann brauste ich los, während der Zeitungsjunge noch den Namen des Ortes schrie, zu dem wir wollten.
Der Polizist stand sprachlos, dann hörte ich hinter mir seine Pfeife gellen. Aber das konnte mich nicht mehr aufhalten.
Der Junge wies mir geschickt den Weg aus der Stadt. Ich fuhr, wie ich noch nie gefahren war, halsbrecherisch durch den dicksten Verkehr. Und dann waren wir auf der Straße, die in die Berge führte. In die einsamen Berge des Tessins, wohin die Touristen selten kamen.
»Erzähl mir, was du weißt«, sagte ich zu meinem Mitfahrer. »Wie heißt du eigentlich?«
»Giuseppe. Und ich bin aus Cemedo. Genau wie die Signorina Maria. Hat sie wirklich den kleinen französischen Jungen entführt?«
»Kennst du den Fall?«
»Natürlich. Ich verkaufe nicht nur Zeitungen, ich lese sie auch.«
»Sie stammt aus demselben Ort wie du?«
»Ja.
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