Der Mond im See
war.
»Kann man dort hinfahren zu dem Haus, wo die Signorina wohnt?«
»Nein. Das ist ziemlich hoch am Berg. Wir müssen das Auto unten bei der Osteria lassen.«
»Gut. Das tun wir. Und du führst mich schnell zu diesem Haus. Und dann werden wir ja sehen.«
Ich schwitzte. Ich war aufgeregt. Und ich hatte Angst vor allem, was ich finden würde.
»Glauben Sie, daß der Junge dort ist?«
»Ich hoffe es.«
Endlich waren wir in Cemedo. Der Ort kam mir etwas größer vor als die anderen, die wir zuvor durchfahren hatten. Giuseppe dirigierte mich vor eine kleine Wirtschaft, wo Platz für zwei oder drei Wagen war. Ein paar Leute standen hier herum, sie riefen erstaunt: »He, Giuseppe, come sta?« Aber er winkte nur ab und lief mir eilig voraus, jetzt auch vom Jagdfieber gepackt. Amigo kam natürlich mit.
Jetzt lernte ich also eines der echten alten Tessindörfer kennen. Aber ich hatte keinen Blick für die Romantik der schmalen Gäßchen, die kreuz und quer zwischen den uralten Steinburgen bergan führten. Ich stolperte über Schwellen und rutschte auf den glatten, von Jahrhunderten polierten Steinen, die bucklig den Boden pflasterten. Die Orientierung hatte ich längst verloren, es ging nach rechts, nach links, hinauf, wieder um eine Ecke abwärts, durch Winkel und dunkle Steinbögen.
Aber plötzlich hielt Giuseppe vor einer alten Tür, die schattig in einem Winkel lag.
»Hier ist es«, flüsterte er atemlos.
»Wie kommen wir hinein?«
Er wies auf die große altmodische Glocke, die über der Tür hing.
»Paß auf«, sagte ich. »Du ziehst die Glocke. Die Nonna kennt dich doch?«
»Sie hört die Glocke nicht. Sie ist taub. Die Tür ist immer offen.« Er drückte auf die altersschwache Klinke, aber die Tür war zu. Das machte mich noch wachsamer.
»Paß auf«, sagte ich noch einmal. »Du ziehst die Glocke, ich verstecke mich hinter dieser Mauer. Und wenn jemand aufmacht, sagst du, du hast eine Nachricht von Signorina Maria. Ganz geheim. Sie hat Schwierigkeiten in Locarno. Und sieh zu, daß du ins Haus kommst. Und sprich Italienisch. Tu so, als ob du nicht Deutsch kannst.«
Ich wußte nicht, was ich erwartete. Aber irgend etwas erwartete ich doch.
Giuseppe sah mich aufmerksam an, seine schwarzen Augen blitzten. Und dann, ohne ein weiteres Wort, zog er an der Glocke. Ich drückte mich seitwärts hinter die Mauer, zog Amigo am Halsband mit.
Stille. Nichts.
Giuseppe läutete wieder. Dann noch einmal, langanhaltend.
Und dann endlich – die Tür bewegte sich, langsam, knarrend. Ein altes, verrunzeltes Gesicht schob sich in den Spalt. Ein gelbes, altes, ganz leeres Gesicht, in dem kaum mehr Leben war. Die Großmutter. Aber immerhin schien sie den Jungen zu kennen. Sie öffnete den zahnlosen Mund, verzog ihn zu einer Art Lächeln. »Giuseppe?«
Giuseppe plapperte sein Sprüchlein herunter, wiederholte es noch einmal schreiend, die Alte grinste ihn verständnislos an. Aber plötzlich griff eine Hand an ihr vorbei, schob sie beiseite, die Tür ging weiter auf, Giuseppe wurde ins Haus gezogen. Es war also noch jemand da. Dies war mein Auftritt.
Ich schob mich langsam zur Tür, die bis auf einen Spalt wieder geschlossen war, hörte Giuseppe drinnen reden, Italienisch, wie ich ihn geheißen hatte, was offenbar auf keinen Widerspruch stieß, dann hörte ich eine Männerstimme, die offenbar Fragen stellte, ebenfalls Italienisch. Leider verstand ich ihn nicht. Auch nicht, was Giuseppe darauf erwiderte.
Was nun? Ich faßte nach der Türklinke, drückte langsam gegen die Tür, versuchte hineinzusehen, aber bis mir das gelang, knarrte die Tür wieder, da stieß ich sie vollends auf, und – da sah ich ihn. Er sah mich auch.
Er blickte von Giuseppe weg, zu mir hin, sein Gesicht verzerrte sich, dieses Gesicht, das ich kannte und doch nicht kannte. Und da sprang ich schon mit einem riesigen Satz nach vorn, holte aus und pflanzte die geballte Faust mit voller Wucht in dieses Gesicht. Er taumelte, darauf war er nicht vorbereitet, ich ließ einen rechten Haken folgen, noch einen, er knallte gegen die Wand und rutschte zur Seite. Die alte Frau kreischte, Giuseppe schrie begeistert: »Per bacco!«
Aber ich hatte schon die dunkle Steintreppe gesehen, die gewunden nach oben lief, ich stürzte hinauf, und dabei schrie ich aus Leibeskräften: »René! René! Bist du hier?«
Amigo war noch schneller als ich, er lief an mir vorbei, mit großen Sprüngen die Stufen hinauf – und als ich glaubte etwas zu hören, einen schwachen
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