Der Mond im See
vererbt hatten –, war er doch ein guter Schweizer Bürger. Und als solcher wußte er, worauf es ankam. Nämlich vor allem darauf, daß endlich einmal Geld in die Familie Latour kam. Und das sollte dieses Juwel von Tochter, das er sich da großgezogen hatte, durch eine reiche Heirat herbeischaffen.
Schließlich waren es immer die hübschen Töchter gewesen, die der Familie Latour ein Stück weitergeholfen hatten. Annabelles Großmutter war es gewesen, die den Latours zu dem repräsentativen Schloß verholfen hatte. Bis zu ihrer Zeit nämlich hatten die Latours, arrogant bis zur Halskrause, aber arm wie die Kirchenmäuse, in Genf gelebt, wo der erste Latour mit seiner Familie auf der Flucht vor Katharina von Medici und ihrem Hugenottenmetzeln vor annähernd vier Jahrhunderten gelandet war. Es lebten viele ihresgleichen dort. Sie wurden Schweizer mit der Zeit, blieben Franzosen im Grunde ihres Herzens, waren hochmütig, adelsstolz, arm und verkehrten am liebsten mit ihresgleichen.
Annabelles Großmutter jedoch heiratete in unseren biederen Nordschweizer Kanton, in das Wilberger Schloß, diesen wuchtigen alten Feudalsitz, älter vielleicht und von besserem Wuchs als die gesamte Familie Latour. Es lag am Ufer unseres Sees, eingebettet in die sanften grünen Hügel dieser lieblichen, ganz undramatischen Landschaft.
Das Fräulein de Latour aus Genf erwies sich als siegreiche Eroberin. Zart, zerbrechlich und ewig kränklich, war sie doch weitaus stärker als der urwüchsige, bärenstarke Wilberger, der sie abgöttisch geliebt haben mußte. Das nämlich erzählten noch die berühmtesten ältesten Leute, das war Legende bei uns im Kanton. Er konnte ihr keinen Wunsch abschlagen. Und ihr größter Wunsch bestand darin, möglichst ihre zahlreiche Sippe um sich versammelt zu haben. So kamen also die Latours aus Genf immer wieder angereist, nacheinander, miteinander, bis sie übereinander das Schloß bevölkerten. Groß genug war das Schloß, weit genug Land und Wälder, die dazugehörten, daß die Latours sich darin tummeln konnten. Ein Kind, das sich der Wilberger so sehnlich wünschte, gebar ihm die Genfer Komtesse nicht. Aber Familie immerhin bekam er durch sie in rauhen Mengen. Und als er nach siebenjähriger Ehe auf der Jagd tödlich verunglückte, war das Geschlecht der Wilberger mit ihm ausgestorben, und die Familie de Latour erbte Schloß, Land und Wälder mit allem, was darin kroch, hüpfte und fleuchte, und war damit auf die einfachste Art wieder standesgemäß seßhaft geworden.
Das Unglück mit dem Wilberger ereignete sich in einer Vollmondnacht, und das war ganz in Ordnung. Schlimme Sachen passieren bei uns immer bei vollem Mond. Wenn der Mond im See schwimmt, kommen die Liebe und der Tod. So sagt man bei uns. Mein Großvater allerdings meinte, so sei der Spruch falsch zitiert. Es müsse heißen ›oder‹. Kommt die Liebe oder der Tod. Wahr ist, daß Maman in einer Vollmondnacht starb. Und ich bildete mir später ein, es sei in einer dieser hellen Nächte gewesen, eine Nacht mit dem Silbermond inmitten des Sees, daß mir zum erstenmal klargeworden war, ich liebe Annabelle.
Was nun den Wilberger betrifft, so gibt es eine dunkle Sage bei uns in der Gegend, die ich vom Gretli erfahren habe, eine Sage, die wissen wollte, der Schuß habe sich nicht von selbst aus seinem Gewehr gelöst, als sein Pferd scheute, sondern sei aus dem Hinterhalt gekommen, und das dazugehörige Gewehr habe sich in den Händen des Bruders der Schloßherrin befunden. Er soll der Meinung gewesen sein, sie würden viel gemütlicher auf dem Schloß leben können, wenn der grobschlächtige Mann seiner zärtlich geliebten Schwester nicht immer störend darin herumtrampeln würde.
Wie gesagt – ein Gerücht. Damals hatte man den Fall nicht untersucht, heute war es nichts weiter als eine hübsche Gruselgeschichte. Immerhin residierte seither die Familie Latour auf dem Schloß. Standesgemäß, sehr feudal, wundervoll eingerichtet, aber immer ein bißchen knapp bei Kasse. Mit dem Arbeiten hatten es die Latours nie gehabt. Und Annabelles Vater, ein schöner, eleganter Mann, von mir immer heimlich bewundert, obwohl er mich kaum beachtete, hatte weiter vom Grundbesitz der Wilberger verkauft, was noch zu verkaufen war. Ein bißchen Schloßpark mußte schließlich bleiben. Das Geld von den Verkäufern wurde schneller ausgegeben, als es hereinkam.
Tante Hille mißbilligte zeitlebens das Verhalten der Familie Latour. Sie war eine echte sparsame
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